11. Januar 2025, Samstag

Der ruhige Dreiklang meiner Tage:

Wald.
Metzgereien.
Beethoven.

So kann man leben.

Was ich mir dagegen gestern Abend zugemutet habe: eine Party in Selb! And it was fun.

Du schaust in die Runde der weiter nicht aufregend aussehenden Leute, die da an einem Kachelofen und um einen Esszimmertisch versammelt sind, und dann geht das los, was man Gespräche nennt. Gerne noch ein Kulmbacher, Danke, Danke! Es stellen sich vor:

Eine Friseurin aus Thierstein, die nach zwanzig Jahren freier Tätigkeit nun ihren ersten eigenen Salon eröffnet hat (Glückwunsch), die Gastgeberin der Party schneidet dort immer Mittwochs. Okay!

Gespräch Nummer zwei: Einer, der in einer der großen Firmen der Umgebung beschäftigt ist (war es die Firma Sandler, der Vliesstoffhersteller, in Schwarzenbach an der Saale?), die Familie der Mutter stammt aus Selb, der Vater aus Indianapolis, er war als GI in Hof stationiert, da hat er die Russen abgehört (wirklich? wirklich!), Kennenlernen von Vater und Mutter, damals in den 1970er-Jahren, ganz wie es sich gehört, in einer Diskothek in Hof, der Vater trennte sich, die Mutter ging mit ihrem Sohn nach der Grundschule nach San Diego. Fuck, wow! Der Typ, schwarze Adidas-Jacke, Wollmütze, man merkt gleich, dass da noch etwas Anderes, irgendwie Internationaleres, nicht nur Fränkisches durch seine Birne rauscht, zog dann nach Schulabschluss nach Los Angeles, verschiedene Jobs („Es ist anders mit den Jobs in USA, verstehst, du machst einfach irgend was, du wechselst öfter“), er kehrte erst vor wenigen Jahren nach Oberfranken zurück: „Ich hab‘s gesehen, verstehst du, ich habe es gesehen. Jetzt lass ich es ruhig angehen, jetzt bin ich hier wieder draußen in Selb.“ Ja, ich verstehe total!

Er erzählt nun, wie er, 1992, gleich nach Ankunft in Los Angeles, die L.A. Riots erlebte, wie lange ist das bitte her (ich erinnere mich trotzdem, Andrian Kreye hat damals ein Buch geschrieben, KiWi-Taschenbuch), ein Schwarzer namens Rodney King war von vier Polizisten misshandelt worden, und die Unruhen waren nicht deshalb ausgebrochen, sondern weil ein Gericht alle vier Polizisten gegen alle Evidenz freigesprochen hatte. Es geht dann auch, im Fortlauf des Gesprächs: um Quentin Tarantino, den immer als Erstes erwähnten Regisseur an Geburtstagspartys, und dass wir beide den sicherlich nicht besten Tarantino-Film Pulp Fiction auf VHS gesehen haben, 1995, noch bevor er ins Kino kam. Pulp Fiction, haha, auf VHS, haha — wir sind die Generation, die den Lieblingsfilme aller bekifften Studenten auf VHS gesehen hat! Wirklich lustig.

Man will dann natürlich noch viel genauer hören, wo der Vater genau herkommt und was wiederum die Eltern des Vaters in Indianapolis gearbeitet haben und ob er weiter in Hof bleib, während doch die aus Oberfranken stammende Mutter mit ihm an die kalifornische Westküste zog (irre, irre), das erzählt er alles enorm plastisch und enorm interessant.

Andere Frage, gewissermaßen zum Auflockern: Welcher ist noch mal der beste Tarantino-Film? Jackie Brown. Genau, Jackie Brown, dieser so erwachsene und so zu Herzen gehenden Liebesfilm, die Anti-Klamotte, eines der würdevollsten Paare der Kinogeschichte (Pam Grier und Robert Forster), auch da bin ich vollkommen einverstanden.

Wieder einer anderer, am Kachelofen sitzend, hat sich zuletzt einen kleinen Hof in Hazlov gekauft, etwa 1.500 Einwohner, Tschechien, böhmisches Vogtland, zwischen Asch (Aš) und Eger (Cheb) gelegen, zirka zwanzig Autominuten von Selb entfernt, zunächst als Wochenendhaus, aber jetzt, nach der Trennung von seiner Frau, war das sein logisches nächstes Zuhause. Er arbeitet als Linienbusfahrer, demnächst zum Beispiel wieder auf der kurzen Strecke zwischen  Brand (Dahme-Spreewald, Brandenburg) zum Spaßbad Tropical Island, Unterbringung und Verpflegung inklusive, faire Bezahlung, guter Job. Der aus Hazlov hat sich außerdem einen Namen als mobiler Barmann gemacht, man bucht ihn, gerne auf Privatpartys, die Liebe zu den Drinks hat er, der in München aufgewachsen ist, natürlich von Charles Schumann gelernt. Und als er sich damals, Neunzigerjahre, bei Charles als Barmann bewarb, ist er vor lauter Schreck — und vor lauter Respekt vor dem, von dem das Standardwerk die Bar-Fibel American Bar (1991, Heyne Verlag), stammt — besser gar nicht erst hingegangen.

Der dritte Gesprächspartner: Einer aus der Oberpfalz, er ist im vierten und letzten Jahr der in Selb ansässigen Berufsschule für Produktdesign, der ehemaligen Berufsschule der Porzellanindustrie, und er möchte heute, als er hört, dass ich mit Zeitungen etwas zu tun habe, über die Image-Platform-Seite pr0gramm reden — man schreibt das mit einer Null bitte statt dem o: Das ist für ihn der Ort, an dem er alle seine Informationen rauszieht, komplexer, realer, zeitgemäßer, offener als der uralte shit, den ich lese. Man kann da nicht einfach draufklicken und mitlesen — ach so? Warum nicht? Das finde ich, Entschuldigung, aber leider schon blöd. Nein, einer, der schon Mitglied ist, muss einen reinholen, und dann wird geguckt, wie man sich als Neumitglied verhält, wer gegen die Regeln verstößt, fliegt raus (keine Nazikack, keine Kinderpornografie, überhaupt, keine linke und keine rechte Hetze). Klingt, mit Verlaub, nach beidem: ganz furchtbar und hoch interessant. Ich möchte da sehr gerne nicht draufgehen, auch nicht Mitglied werden, aber ich rede gerne mit ihm darüber, hier, auf der Geburtstagsparty in Selb.

Natürlich, so der Designschüler, der außerdem Bilder malt und ein Atelier unterhält im ehemaligen Bahnhof Selb, dem heutigen Hipster-Café der Stadt (Schwarzer Peter), er erklärt nun, es gebe immer wieder Gerüchte, dass pr0gramm eine rechte Seite sei, von Rechten unterwandert, das sei nicht ganz falsch, aber es sei eben auch: totaler Quatsch. Interessanter als das, was gepostet würde, seien eh die Kommentare unter den Posts (Oh Gott, oh Gott, Kommentare lesen? Meint er das ernst? Weiß das nicht jeder, dass bei den Kommentar-Schreibern die krankesten, wirrsten, verhetztesten Nazis und Querdenker sind? Nein! NEIN! Alles ganz anders! Okay. Ich höre einfach weiter zu).

Was man da, sprechend, in etwa eineinhalb Stunden alles erlebt, ich fasse es nicht, ich habe nach zwei Stunden Geburtstagsparty genug Stoff zum Nachdenken und noch mal in Ruhe im Kopf durchgehen für die nächsten eineinhalb Wochen.

Teechen.
Leider keine Zigaretten.
Es ist so schön, dass der Schnee liegenbleibt.

Arbeit an einem Text über Andreas Banaski für den von Erika Thomalla herausgegebenen Band Die Wahrheit über Kid P. (mit Textbeiträgen der Diederichsen-Brüder und der weiße Reisverschluss-Lederstiefel tragenden Kim-Gordon-Gudrun-Ensslin-Achtziger-Jahre-Rockisten-Schule von Spex, Clara Drechsler, Jutta Koether). Wir nennen Banaski den ersten deutschen Popautoren, und das Schöne ist: Das ist kein Quatsch, so muss man ihn nennen.

Ach so, und ich wähle dieses Mal nicht SPD. Man kann die SPD bei dieser Bundestagswahl wählen, es geht nicht. Ich wähle die Partei, die beim wichtigsten Thema unserer Zeit nicht komisch rumeiert — ich wähle die Partei, deren Spitzenkandidat 3,5 Prozent der Bruttoinlandsprodukts für das Verteidigungsministerium fordert. Ich wähle Die Grünen.