14. Mai 2025, Mittwoch

Darf man eine Rede in einem Blog aufschreiben — eine Rede, die bei meinem sehr schönen und herzlichen Abschied vom Zeit-Feuilleton im Lokal Fritzis in der Kleinen Freiheit in Hamburg St. Pauli gehalten wurde, genau, in Fußnähe zur Taverne Hellas (Davidstraße), zum Silbersack (Silbersackstraße) und zum Goldenen Handschuh (Hamburger Berg)? Weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht, liebe Freunde. Und tue es hier trotzdem. Gesprochene Worte, gestern gegen 19.30 Uhr, wie folgt:

Abschied nehmen vom Feuilleton der Zeit.
Man nimmt Abschied von Lars Weisbrodt, der wirklich toll einen auferzählen kann.
Abschied von Ijoma Mangold, der die Codes der Neunzigerjahre und das Spiel mit der Decodierung der Codes so ernst nimmt wie vielleicht kein Feuilletonist vor ihm.
Abschied von Iris Radisch, die sehr freundlich und dabei absolut tödlich erklärt hat, was am neuen Stuckrad-Barre ein bisschen komisch war.
Abschied von Jens Jessen, den man mit einer Gesamtausgabe Maupassant UND einer Gesamtausgabe Balzac unter dem Arm im Zug antreffen kann.
Abschied von Antonia Baum, who established the Sound of Hip Hop im deutschen Feuilleton.
Abschied von Berit Dießelkämper, die es — Entschuldigung — einfach kann.
Abschied von Christine Lemke-Matwey, der — neben Joachim Kaiser — letzten Mohikanerin.
Abschied von Thomas E. Schmidt, der einen weißen Pullover von Helmut Lang besitzt.
Abschied von Peter Neumann, der als gelernter Lyriker die am besten sitzende Überschriften für die Wimmelseite dichtet.
Abschied von Florian Eichel, der vorführt, wie man 2025 die Es-Dur-Nocturne von Chopin 2025 noch einmal ganz neu entdecken kann.
Abschied von Alexander Cammann, der kein Buch wegwirft.
Abschied von Peter Kümmel, der dann halt wieder zur Stelle ist, in seiner krassen Peter-Kümmel-Haftigkeit — jahrzehntelange Praxis, Erfahrung und Stilsicherheit als Theaterkritiker —, wenn Carl Hegemann stirbt.
Abschied von Hanno Rauterberg, der bis nach Wuppertal kam.
Abschied von The Voice Katja Nicodemus, wegen der ich Deutschlandfunk höre.
Abschied von David Hugendick, dem natural born Kolumnisten (man merkt ihm gar nicht an, dass er in zehn Literaturpreis-Jurys sitzt).
Abschied von Volker Weidemann, der den Wellenreiter Thomas Bernhard in seinem Büro hängen hatte.
Abschied von Tobias Timm, der einmal alle Rekorde bei Neuanwerbung von Zeit-Abonnenten brach (mit einem 2.000-Zeichen-Einwurf über Strike Germany).
Abschied von Elisabeth von Tadden, die, wenn sie so weitermacht, bald wie die inspirierteste 17-Jährige des Zeit-Feuilletons klingt.
Abschied von Adam Soboczynski, dem Meister des am Montagmittag hingehauenen 7.000-Zeichen-Aufmachers.
Abschied von Andreas Lebert, dem letzten Live-Rock‘n Roller des Feuilletons.
Abschied von Laura Hertreiter, Marlene Knobloch und Nele Pollatschek, den Frauen, ohne die man kein Feuilleton machen kann.
Abschied von Tanja, Christiane, Janna und Ildiko, die Crew der genialen Assistentinnen, die alles, alles zusammenhalten und ohne die es keine fertigen Seiten gibt.

Ich verabschiede mich heute vom — so einfach ist das — intelligentesten und freshesten deutschsprachigen Feuilleton. Und ich war einer von euch. Darauf bin ich stolz.

Ihr möchtet wissen, was für ein neues Leben ich da jetzt eigentlich führe — in Oberfranken, im Wald. Nun, davon zu erzählen, dafür brauche ich nun wirklich die zehn Bier, die ich heute Abend noch trinken werde (sorry, sorry). Nur so viel: Gestern habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Gartenarbeit gemacht, genauer: Löwenzahn gejätet. Und es macht genau so klug und schön, wie alle immer sagen.

Ich stehe hier als jemand vor euch, der schon so unendlich weit weg ist von diesem schönen Feuilleton! Genau vor einem Jahr habe ich den letzten großen Text geschrieben. Man kriegt eine Idee davon, was in einem Leben alles möglich wäre — macht man ein Jahr lang mal plötzlich nichts oder etwas ganz anderes. Probiert das auch mal aus, es tut echt gut, ich kann es nur empfehlen!

Könnte ich in diesem Leben noch Bundestagsabgeordneter werden? Weiß ich nicht. Ganz knapp, vielleicht, ja. Kinderchirurg? Sicher nein. Dirigent der Berliner Philharmoniker? Nein. Und das ist natürlich schon eine Tragödie.

Und gleichzeitig bleibe ich natürlich für immer das hier: slim shady, der windige Journalist, der Raushauer von Texten, die nicht älter werden und auch nicht länger leben müssen als eine Woche. Ich habe das so gerne gemacht (Journalismus). Und noch immer kriege ich einen Schreck, wenn Xatar, Carl Hegemann oder Naddel, die Frau ohne Nachnamen, stirbt. Und denke: Moment, das bin doch ich. Das hätte ich schreiben müssen, Scheiße.

Leute fragen mich, zuletzt meine kluge Reinigungsfrau in 95111 Oberfranken: Wie kann man denn so etwas Tolles freiwillig aufgeben, den Posten als Feuilletonist in Hamburg? Und ich sage: Man muss etwas aufgeben, damit etwas Neues beginnen kann, haha. Und schon während ich so etwas sage, so etwas Schönes, Wahres und Weises, denke ich: Fuck off. Oder auch alles noch mal ganz anders.

Wenn ich ehrlich bin — ich finde doch Ehrlichsein so gut, wisst ihr ja: Ich halte es für möglich, dass das Beste in meinem Leben schon hinter mir liegt. Und das wäre komischerweise: auch nicht so schlimm. Stellt euch vor, SO gut war es bei euch, ihr Feuilletonistinnen und Feuilletonisten, die ihr hier mit mir in diesem Lokal versammelt seid. Danke.