27. Januar 2024, Montag

Am Wochenende Don Paulchen Seehausen aus Zehdenick, den älteren der Seehausen-Brüder aus den Deutschboden-Büchern, zu Besuch in Zürich gehabt. Da war schon am Telefon viel Freude aufgekommen und hatte sich eine schöne Spannung aufgebaut — the man from Oberhavel hier in unser kleinen, aufgeräumten Stadt? Da geht was.

Und dann war es natürlich ein im besten Sinne ruhiges, erwachsenes, zivilisiertes Wochenende gewesen, mit Gesprächen (von der naheliegenden Frage, wie strategisch kluges Wählen am 23. Februar geht, will man eine schwarz-grüne Regierung? Was will man jetzt eigentlich?, bis zum Schwärmen über GTA-Spiele, Paul erinnerte noch mal daran, dass das die größte Kultur-Äußerung überhaupt ist, nie zuvor und danach war ein in der populären Kultur lanciertes Produkt so groß, so erfolgreich (man liest das ja auch immer wieder in Lars-Weisbrodt-Texten im Feuilleton), da kann ganz Hollywood einpacken, und wir sprachen dann auch noch über uralte Filme, den Shoot Out in Michael Manns Heat und die unschlagbaren Dialoge in Scorceses Irish Man: „It is what it is. It is … what it is.“).

Paul, der 1,90-Meter-Mann mit den Augenringen, seit nun auch schon drei, vier Jahren Vegetarier, nach 16 Uhr isst er mittlerweile gerne gar nichts mehr, das Kurze-Trinken lässt er ganz bleiben („Das Pfeffi-Trinken, das war ja nun wirklich einfach immer nur ekelhaft, das habe ich nie verstanden“). Seit 2009 gehen wir einen Weg zusammen. Wir sind einfach älter geworden, Mann.

Paulchen wohnte auf unserer Reeperbahn, der Langstraße, im 25 Hours Hotel, erster Abend am Bartisch im Schnupf, am Samstagvormittag dann, wie Zürcher das gerne machen, zum Eisbaden in den Zürichsee (der gesuchte Kälte-Schock blieb leider aus, die Luft war zu warm), und natürlich schauten wir noch kurz in die Kronenhallen Bar rein (clash of cultures). Sehr schön immer auch, wie Paulchen die Zürcher Autonummernschild ZH der vorbeibrodelnden Maseratis, Lamborghinis und Bugattis anguckte und sagte: „Kiek an, ZH, Zehdenick an der Havel …“. Dem Besuch, ihm war es auf immer richtige, extrem lockere Art auch ein bisschen egal, was das hier eigentlich für ein Stadt war („Echt alte Häuser habt ihr hier in eurer Altstadt, wa?“), Zürich, ja, da gibt es Interessanteres, letztlich macht man, ganz gleich, ob man ihn Chemnitz, Prag oder Zürich Wochenendurlaub macht, doch immer dieselben Dinge, Zigarettenpausen, Pommes mit gelber Soße. Noch mal anders Freude hatte ich, als ich dem Mann aus Brandenburg Europas teuerste Einkaufsstraße, die Bahnhofstraße, vorführte, mit ihren Shopping Ladys aus dem Aargau und den Balenciaga tragenden Warlords aus Aserbaidschan. Ich verstand noch mal: Es ist ihm wirklich vollkommen gleichgültig, Luxus ist ihm egal, Brands, die großen Marken sagen ihm nichts, er hat da keine Kriterien.

Und es geht natürlich noch tiefer: Diesen Punks aus Oberhavel, die im letzten Jahrzehnt der DDR schon knapp denkende Menschen waren (1982 geboren), also noch tief aus diesem ganz anderen Deutschland kommen, ihnen ist Geld einfach vollkommen egal, die Anbetung des Geldes, die in der Schweiz ja Konsens, Grundlage für alles, Motor, ganzer Sinn und einzige Religion ist (neben Kokain, linksradikal daherreden und Grafiker sein, klar) — es könnte ihm egaler nicht sein, er will paar Bierchen trinken, eine rauchen, paar abgeklärte Sprüche klopfen, sich kaputtlachen, lass gut sein, they just don‘t care. Wunderbar.

9-Uhr-Anruf draußen im Wald.
Acht Grad, es taut, aber die Wege im Wald sind immer noch vereist.
Der Termin mit Architektin, Schreiner und Statiker kann auf nächste Woche verlegt werden, gut.

Und: Nachbearbeitung der Poschardt-Meldung von Freitag vergangener Woche: Du lieber Himmel, da war ganz schön was los hier — das Diagramm auf dem Dashboard des World Press Providers machte einen Riesenhaken nach oben (wenn sonst 500 bis 1.000 Leute täglich meine rührenden Meldungen anklicken, so waren es diesem Freitag um die 8.000 Leserinnen und Leser), Freunde, Nichtfreunde, ehemalige Bild-Zeitungs-Redakteure, der ehemalige Hanser-Verleger, das Nachtleben, das Theater, viele und beinahe alle wollten noch etwas dazu sagen.

Und ich dachte übers Wochenende, und heute denke ich es auch noch mal: Wenn ich alten Freunden und ehemaligen Mitstreitern so voll fest und herrlich brutal (Adam Soboczynski) eins auf die Nase gebe, wie sieht es denn bei mir eigentlich mit der so genannten Selbstkritik aus? Könnten Sie sich vielleicht auch mal selbst so präzise und erbarmungslos auseinandernehmen und sich selbst hinrichten?

Und die Antwort lautet: Nein, dass geht leider nicht, Selbstkritik war nie möglich, das ist nur etwas für ganz fiese und maximal verlogene Frösche. Und, da muss Ulf jetzt nicht groß traurig sein: Alle kriegen auf die Fresse, nicht nur die, die unerträglichen Unsinn reden und tief im Spinnennetz des internationalen, rechtsradikalen Bro-Tum Thiel-Musk-Döpfner verheddert sind. Auch wir hier, ganz genau: der einzige Redakteur von Deutschland unabhängigster Plattform, der Ein-Mann-Tageszeitung MadW, kriegt auf die Fresse — keine Sorge, das ist Entertainment, das ist Öffentlichkeit, da kann man die Uhr nach stellen. Das: passiert ja gerechterweise immer auch.