29. Oktober 2025, Mittwoch

In die sicherlich sehr sorgfältig gemachte C.G.Jung-Ausstellung im Landesmuseum brauche ich nicht zu gehen (ein Highlight: die Freud-Sofas auf den Stufen des sehr geil nach unten stürzenden Treppenhauses aus geschliffenem Sichtbeton), ich bin ja kein Schweizer, und als normal intelligenter, nicht übermäßig zur Selbstquälerei neigender Mensch weiß ich ja schon alles über die die Psyche und den ganzen Seelenkack.

Ich war dann natürlich doch drin und dachte: Watt denn, das ist schon alles? Das geht aber schnell vorbei. Das furchtbare, alles vernichtende Kritikerwort „unterkomplex“ war mir in den Sinn gekommen, ich hatte es bei Jens Jessen vor etwa 15 Jahre bei einer Zeit-Feuilleton-Konferenz zum ersten Mal gehört und war schon damals sehr darüber erschrocken (ja, ja, zu einer profunden und vor allem fairen Ausstellungs-Kritik, die das hier ja keinesfalls sein möchte, muss man sich schon ein wenig länger als meine blasierten zwanzig Minuten nehmen, ist klar).

In den Räumen der Ausstellung war ich immer wieder in die KARIKATUR der Zürcher C.G.-Jung-Ausstellung-Besucherin hineingelaufen — #Angst: neunundsechzigjährig, natürlich, oder doch schon weit über achtzig, das ist die von der Psychotherapie geprägte Generation, müde, grau, aschfal, von grässlichen Falten zerfurcht, in endlosen Therapiesitzungen zerwalkt, zerlabert und zerschlissen und in Sitzungen über die Jahrzehnte von scheußlichen Heulkrämpfen durchschüttelt, betrachtete sie jetzt hier, die in cremefarbene Filtz-Jute-Kaschmir-Kombinationen gekleidete Armee der Psychotherapie-Leichen, die Exponate der Ausstellung SEELENLANDSCHAFTEN.

Und ich dachte, nicht zum ersten Mal: Was ist das bitte für eine Wissenschaft, die von Freud, Jung und Adler, die so freudlose, so hart vom Leben zermarterte Menschen als ihre Patienten und Fans hervorbringt? DAS KANN NICHT GUT SEIN.

Gut eine Stunde später dann, durch Zürich streifend — ich hatte mich am Rande einer akut einsetzenden Totalverblödung allen Ernstes zu einem Tässchen Filterkaffee im Hottinger Café Vier Linden niedergelassen (das dazugehörende Bio-Reformhaus wird von Urzürchern „Vierziglinden“ genannt, weil es selbst für hiesige Verhältnis so geisteskrank überteuert ist), wurde ich hier — irrerweise ja gleich im Anschluss an den Besuch der C. G. Jung-Ausstellung im Landesmuseum — Zeuge eines ganz besonders traurigen und schaurigen Zwiegesprächs:

Über gut zehn Minuten konnte ich dabei zusehen, wie ein noch irgendwie junger, dabei aber offenkundig schon halb zum Tod rübergekippter Junkie (geschätzt 28, Scarface-T-Shirt, billiges Pepita-Hütchen, hohe Wangenknochen, verdreckte Fingernägel, junkiemäßig ziemlich gut, schmal und schnittig aussehend) seine restlos überforderte, ihren eigenen Sohn mit ANGSTGEWEITETEN AUGEN anstarrende Mutter zusammenfaltete.

Sohn, bösartig, abgefuckt, sadistisch, voll auf der „Ich gebe meiner Mutter jetzt den Rest“-Rolle:

„Du solltest mir Bargeld mitbringen — du hast mir kein Geld mitgebracht. Wenn du mir kein Geld gibst, wirst du sehen, dass ich schon heute wieder auf der Straße lande.“

„Meine eigene Mutter gibt mir kein Geld.“

„Die eigene Mutter sieht dabei zu, wie ihr Sohn in den Knast geht.“

Dann, comichaft böse, übertrieben irre: „Soll ich böse Dinge tun? Möchtest du sehen, dass ich rausgehe und Leuten auf offener Straße ein Küchenmesser in den Hals stecke, einfach, weil es mir egal ist, einfach, weil ich es kann?“.

Mutter, erbarmungswürdig, in schrecklicher Mutter-Hilflosigkeit, dem kaputten SM-Junkie-Hustler-Monster-Manipulations-Grausamkeits-Spiel ihres Sohnes ganz ausgeliefert — die Urtragik dieser Person lag natürlich darin, dass sie als Mutter nicht einfach aufstehen und ihren Sohn, der längst der größte und erbarmungslosteste Feind in ihrem Leben war, so sitzenlassen konnte:

„Das bringt nichts, wenn wir so miteinander reden.“

Im Kopf konnte ich den Therapeuten der Mutter hören, der seiner Patientin geraten hatte: „Wenn Sie ihren suchtkranken Sohn treffen, dann bitte an einem öffentlichen Ort.“

Sohn ab, nachdem er sich — strichermäßig, junkiemäßig, auch hier schon wieder mitten in einer scheußlichen Manipulations-Theaterszene — sein Handy und das Aufladegerät über die Kuchentheke hatte reichen lassen, Mutter blieb mit geschlossenen Augen am Cafétisch sitzen. Himmel, hilf.

Am Abend dann versuchten wir, Anna und ich, die Haftbefehl-Doku Babo auf Netflix zu sehen — und waren, schon nach zehn Minuten, praktisch erschlagen von so viel Psycho, Soße, Kitsch, lowester RTL-Haftigkeit, abgestandester 069-Offenbach-Straßen-Drogen-Heroisierung, von so viel komplettem Scheiß.

ANDERE Frage, aber: Hat der sagenhaft gute Künstler Haftbefehl nicht zehn, zwanzig oder 25 sehr, sehr gute Songs gemacht? Hätte man, zum Beispiel, nicht gerne gesehen, wie er, der Flowter, sich im Studio verhält und wie der Smack seiner Songs ganz konkret entsteht? Nein, er war schon zu drauf, zu kaputt, zu weggetreten, als dieser Film gedreht wurde, er war einfach zu krank, da konnte man nur noch dieses Auf-die-Leiche-Draufhalten machen. Verstehe.

Mann! Da hat sich der sprichwörtliche Offenbacher Junge mit der Kraft und Randale seiner Kunst — Ich bin high und ich rolle tief — aus der Tristesse seiner Biografie hervorgearbeitet (die so genannten Aussichten wären ja wirklich nicht so toll) und sich zum Autor seiner eigenen Fame-&-Fortune-Geschichte erhoben — und wird von seinen Biografen, dem Ex-Spiegel-Redakteur Juan Moreno und dem Agentur-Texter und Regisseur Sinan Sevinç, genau auf den alten Mist wieder festgelegt, auf seine Herkunft, den Wohnblock in Offenbach, die Traumata, den ganzen Psycho-Schmuh mit Vater und Familie, die als Netflix-Oper gut aufzubereitende Opfergeschichte.

Das eine ist, was ein Haftbefehl erzählt, hält man ihm ein Mikrophon hin (natürlich immer wieder die alte „Ich bin Dreck/ ich komme von ganz unten“-Geschichte, weil er weiß, dass sie für alle bequem ist und sich gut verkauft), das andere wäre die ungleich tausendfach interessantere, sorry, nicht reaktionäre Geschichte gewesen, bei der ein Film mehr weiß und mehr verstanden hat als seine Protagonisten: Papa war der Superpimp, der seine Armani- und Versace-Anzuge in den Müll steckte, nachdem er sie drei Tage getragen hat (ach ja? Ich glaube das komischerweise gar nicht, auf den wenigen Original-Bildern sieht Papa Haft eher wie der normal melancholische kurdische Gastarbeiter in einem hässlichen 80er-Jahre-Deutschland aus), er hat sich beim Fußballtraining nie blicken lassen und sich auch sonst keine Zeit für mich genommen, ich habe das bis heute nicht überwunden.

Sorry, verehrter ehemaliger Spiegel-Kollege Juan Moreno: Aber das finde ich keinen guten Film.

(Die absolut schönste Szene des Films, die es natürlich auch gibt, muss noch erwähnt werden: Reinhard Mey singt In meinem Garten, und Aykut Anhan, der schwer angeschlagene Babo, krächzt mit — oh Gott, wie der Liedermacher-Strumpf und der sentimentale Drogen-Babo sich hier treffen, in einer anderen Ewigkeit, und sich tief in die Arme sinken, das ist großes Kino, hier wird doch noch alles, alles gut).