3. Oktober 2024, Donnerstag

Noch schlafend hörte ich heute Morgen einen langen Essay von Jürgen Kaube zum Tag der Einheit im Deutschlandfunk: „Innerdeutsche Grenzziehung. Analyse eines neuen Unbehagens.“ 
Kaubes Grundfrage: Wie aber steht es um den großen Gegensatz, der uns in Deutschland derzeit nahegelegt wird, um den Gegensatz von Ost und West?

Ich gebe mal hier ein paar Zitate wieder, die ich, während der Kaube-Text ab halb zehn verlesen wurde, in die Notiz-Funktion meines Handys tippte (muss nicht im Wortlaut stimmen, es musste ja schnell gehen), es lohnt sich, das hier noch mal zu lesen: 

„Sie sind empört und zwar so sehr, dass sie inzwischen sogar das Gespräch über die Gründe ihrer Empörung verweigern (…).
Nicht reden wollen, sondern Positionen beziehen, die nicht verhandelbar sind (…)
Protestwähler zu sein ist auf Dauer keine attraktive Rolle. Wer möchte schon psychologisiert und erklärt, anstatt ernstgenommen werden. Der mündige Bürger wählt aus Überzeugung, das hat sich herumgesprochen (…).
Insgesamt wird vor den extremen Parteien (in den öffentlich-rechtlichen Medien) ständig gewarnt. Sie seien undemokratische Parteien, es sei fatal, sie zu wählen. Damit tritt ein Paradoxon hervor: Denn diejenigen, die als Undemokraten bezeichnet werden, verstehen sich selbst als die besseren Demokraten (…).
Bei der Eröffnung der diesjährigen Frankfurter Buchmesse wurden Schilder mit dem Slogan „Demokratie wählen!“ hochgehalten. Das war ein Widerspruch (…). Denn: Was anderes sollte denn in freien, gleichen und geheimen Wahlen zum Ausdruck kommen als die Demokratie? (…).
Solange die AfD bei Wahlen zugelassen wird, begeht, wer das Kreuz bei ihr macht, keinen demokratischen Irrtum.
Die Liste westdeutscher AfD-Politiker ist lang. (…). Man kann sagen, dass das Problem westdeutscher Dominanz für den Osten auch für die AfD gilt (…)
Italien, Frankreich, Niederlande, Polen, Ungarn: In all diesen Ländern existieren dieselben Probleme, die wir Ostdeutschland zuordnen. Und das sind Länder, die keine Wiedervereinigung hinter sich haben. Nur manche von ihnen haben eine sozialistische Vergangenheit. 
Wir können unsere Empörung in Wahlentscheidungen umsetzen. Ansonsten nützt unsere Empörung nicht viel (…).
Das heißt auch, dass wir uns der Phrasenhaftigkeit dessen bewusst werden, was wir allgemein hin so sagen, wenn uns jemand ein populistisches Argument oder einen rechtsextrem Unfug präsentiert. (…).
Und so gut wie niemand fühlt sich derzeit gut regiert. Der Irrtum ist nur, die Extremen könnten es besser.“

WORD UP. 

Es sprach: Jean Paul Baeck, Schauspieler, Sprecher, Köln.

Leichte Müdigkeit bei mir, überhaupt noch Irgendetwas zu Osten und Deutsche Einheit zu denken, dachte ich noch gestern auf der endlosen Flixbus-Fahrt von Zürich nach Oberfranken, es wurde doch schon so unendlich viel dazu gesaaaaaagt, aber jetzt bin ich heute, auch durch den Kaube-Essay, gleich wieder so angedreht. Welches andere europäische Land hat so etwas krass Interessantes, Komplexes, längst noch nicht Abgeschlossenes und immer Weiter-neu-zu-Denkendes-und-zu-Beurteilendes in seiner DNA wie wir mit der irren Geschichte der Jahre 1989/ 1990?  

Das Gute/ das Wichtige an Herrn Kaubes Essay liegt darin, dass er nichts Besonderes sagt, das aber sehr genau und sehr klar. Seine Brillanz ist eine, die ganz ohne Originalität oder — wie heißt das noch mal — ballernde Sätze auskommt.

Schickte den ganzen Essay als Audiofile sofort unserem Waldkönig aus Sachsen, Herrn Randolph (bitte anhören, so geil, so geil, Danke).

Die Bundesregierung spricht zur Deutschen Einheit im Jahr 35: „Frei, vereint und unvollkommen.“ AHA.
„Die Einheit ist vollendet, auch wenn sie nicht vollkommen ist“ (Carsten Schneider, Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland). AHA.

Stephan Schlak schickte mir die neue Zeitschrift für Ideengeschichte: „Unternehmen Unseld“ (Grünbein, Goetz, Mara Delius, Niklas Maak, Illies). Angekommen, vielen Dank, wird natürlich noch ganz genau studiert. 

„The beer I had for breakfast wasn‘t bad/
So I had one more for dessert“
On a Sunday morning sidewalk, Kris Kristofferson (1936 bis 2024)