30. August 2024, Freitag

Die ungeheuren drei Worte des Vortags tauchten auch heute früh, gleich beim Zähneputzen um 6.30 Uhr, wieder in meinem Kopf auf:

Bett, Brot und Seife 

Synonym für: Leistungskürzungen für Flüchtlinge, am gestrigen Donnerstag von der Ampel-Koalition beschlossen, man möchte hier — zwei Tage vor Thüringen und Sachsen — natürlich das berühmte „Wir haben verstanden“ senden, eventuell noch 0,25 Prozent der 30 Prozent für die AfD für die bürgerlichen Parteien zurückgewinnen und natürlich auch die Bild-Zeitung beruhigen oder den Arbeitslosen im Erzgebirge, der im Unterhemd in seinem eigentlich ganz hübschen Gärtchen steht und auf Telegram seinem Nazi-Blogger folgt.

Ich dachte sofort: Ist das denn legal? Ich meine: Darf man Flüchtlinge wie in einem Historienfilm mit Charles Heston bei Wasser und Brot an einer Pritsche festketten und ihnen jeden Tag zehn Stockhiebe versetzen, bis sie freiwillig in das Schengenland zurückkehren, von dem aus sie das Sozialhilfe-Paradies Deutschland betreten haben? Ach so, auch wieder wahr: Das hat ja SO auch gar niemand gefordert.

Syndetons — das sind Konstruktionen aus drei Worten, durch Komma unterbrochen, dann mit einem „und“ verbunden –, die in meinen Ohren menschlicher, fairer und, ja, irgendwie mehr nach 2024 als nach Mittelalter geklungen hätten:

Bett, Käse-Schinken-Toast und Duschgel
Bett, Pizza Verdura, Aesop Wash & Go
Oder, einfacher: Motel One.

Aber klar, das peitscheknallende „Achtung, Ausländer, bei uns kann es ab sofort ungemütlich werden, auch für dich“, ist bei meinen Vorschlägen nicht mehr dabei.  

Die irren Tage vor Thüringen, Sachsen (noch 55 Stunden bis Sonntag, 18 Uhr): Man liest seit Jahren, nicht seit Monaten, und in den letzten Tagen natürlich im Dauer-Stakkato, dass sich am BIG 1. September das Land verändern wird, gestern zum Beispiel in einer Reportage des britischen The Spectator („Is Germany‘s fair right about to go mainstream?“), die mir Florian Illies schickte: „‚We need to deport, deport, deport‘, Björn Höcke, leader of the Alternative für Deutschland in Thuringia“. 

Aber komisch: Ich check es irgendwie noch nicht, es kommt bei mir nicht an, ich spüre es nicht — null Alarmstimmung. Das ist, leider, das deutlichste Zeichen dafür, dass ich zu den Millionen pennenden Deutschen gehöre, die am Sonntag um 18 Uhr das Doofer-Öko-Wort „Wahnsinn“ oder den wirklich überflüssigen Satz „Ich fasse es nicht“ sagen werden. 

Heute noch schnell zu Ende lesen: den neuen Ost-Deutschland-Bestseller Der Freiheitsschock von Ilko-Sascha Kowalczuk, den Anti-Oschmann, the angry kid from Berlin-Friedrichshagen.

ANDERE Frage, wie gesagt, es ist noch früh am Morgen, das Hirn springt erst so langsam an, im Deutschlandfunk läuft die Presseschau — es ist, sorry, die NAHELIEGENDE Frage:

Müssen wir jetzt alle noch mal ganz neu lernen, haha, mit Nazis zu reden, also nicht mit dem Poster-Nazi Björn Höcke, mit dem ja wirklich niemand etwas zu tun haben will (zu hässlich, zu verschwitzt, zu aufgeregt), sondern mit den vielen nicht ganz unsympathischen Deutschen, die das Prinzip Demokratie schlicht nie verstanden haben, also „kindliche Vorstellungen“ haben (Kowalczuk) von unserer repräsentativen, liberalen Demokratie? KONKRET: Macht das Sinn (Ekel-Formulierung, sorry), mit einem der vielen Nazi-Naivlinge in Sachsen und Thüringen im Moment ihres Triumphs zu reden, oder soll man da besser die drei, vier Jahre warten, bis der Osten von seiner AfD wieder ENTTÄUSCHT ist und in seinen Kleingarten und seine resignative, beleidigte, in der DDR gelernte „Auf uns Kleine hört ja eh niemand“-Grundstellung zurückkehrt oder sich, keine Ahnung, noch weiter radikalisiert und dem Bombenbauen zuwendet?

Richtig, wir müssen weg von dem bequemen Neunziger-Jahre-Bild, dass AfD-Wähler rührend angesoffene Unterschicht-Dummbödel im Unterhemd sind, es sind, genauso und in den letzten zehn Jahren ganz besonders, die gut situierte Mittelschicht, Anwälte, Ärzte, Unternehmer, Gewinner, lachend, fröhlich, supergut gelaunt, expandierend, Aperol Spritz trinkend, mit neuer Harley Davidson, im Urlaub an der Ostsee, auf Mallorca und auf Sylt, und eben astrein nationalsozialistisch. Eine erfolgreiche Partei, das ist die AfD, zieht eben auch die Erfolgreichen an. 

So gesehen — nächster Gedanke — ist es wahrscheinlich, dass sich nach den Ost-Wahlen im September, wenn über der AfD die SONNE DES ERFOLGS steht, sich im Dunklen, im Halbschatten, im dunkelbraunen Morast, noch rechts der AfD, eine neue Partei gründen wird, die sich dann nicht um die Erfolgreichen, sondern um die neu frustrierten kleinen Leute kümmern wird, den Bodensatz, die Abgehängten, denen es bei der AfD zu funky, zu erfolgreich, zu schick geworden ist — wir wollen es bitte wieder so richtig bad und hässlich und billig und unterschichtig kaputt haben, wie es bei uns im Osten immer war: Punks, Hooligans, BFC-Dynamo-Fans, Pitbull-Züchter, Butanol-Schnüffler, Sternburg-Bier-Trinker, NVA-Devotionalien-Sammler, die in ihren Garagen Oi-Partys feiern. Und natürlich wird man in dieser neuen Avantgarde-Partei seine eigene Asozialität und Hässlichkeit — gemäß den uralten Regeln des Pop — wieder in einem ironischen, dabei natürlich auch ganz unterhaltsamem Gestus ausstellen.

Weiß man schon, wie diese neue Dirty-Nazi-Partei von ganz unten heißen wird? Ich schlage vor:

Ganz unten
Hässlichkeit
Auch gut: Unsere Hässlichkeit
Herzen aus Eisen
Pimmel aus Stahl
Der Schock
Hirntod
Hammer und Sichel

„Ich wähle Hirntod“: nicht so schlecht.  

9.26 Uhr. Die Bundesregierung meldet: Deutschland hat 28 afghanische Straftäter nach Kabul ausgeflogen (Boeing 787 der Qatar Airways startete um 6.56 Uhr von Leipzig), es handelt sich um die erste Abschiebung seit der Machtübernahme der Taliban. Potentielle AfD-Wähler, die wegen dieser Aktion, die „auch eine symbolische“ ist (Der Spiegel), nun erwägen, Mario Voigt oder Michael Kretschmer zu wählen: Muss noch gezählt werden.

Ich grüße den Osten, den ich — seit meinen ersten Ausflügen mit Mindestumstausch nach Ost-Berlin im Jahr 1978 mit meiner Zwillingsschwester und meinem Vater — tief im Herzen trage, it is true love, das wissen ja auch alle, ganz gleich, wo ich bin.

#Utoquai