30. Juni 2024, Sonntag
Trainer Micha Ungar aus Moschwalde/ Zehdenick war übers Wochenende zu Besuch da, ich hatte ihn 2009 bei den Recherchen zum ersten Deutschboden-Buch kennengelernt. Warum war denn das nun alles, des Trainers Michas Besuch, so absolut deep, berührend und lebensverlängernd gut? Man kann es, wie bei allen wichtigen Dingen, nicht so ganz genau sagen.
Micha Ungar, mittlerweile um die Sechzig: Er trägt heute immer noch so ein silbriges Junge-Männer-Sportjackett (Typ Rockabilly, made in 1980 in der DDR). In Karlshorst, Ost-Berlin geboren. Als sehr junger Mann hat Micha in der DDR-Junioren-Nationalmannschaft geboxt (TSC Berlin Trainer Uli Wegner nahm ihn unter seine Fittiche). 1987 erklärte Micha seinem Herrn Erzeuger: Ich gucke mir die Welt an, auf den Schiffen der Hochseefischerei, oder ich stelle einen Ausreiseantrag. Es wurde dann die Hochseefischerei (Halifax, Montevideo, Helsinki). Studium des Bauingenieurswesen. Nebenbei betreibt Micha die Prenzlauer-Berg-Pinte Blabla (unter der Woche wird morgens um sechs zugeschlossen, am Wochenende schon mal um zwölf Uhr mittags).
Idee: Es ist sein tiefer Humanismus, der diesen herrlich brummenden, feixenden, Sprüche ballernden Mann zu einem besonderen macht. Humanismus: ja, nicht weniger ist es. Lässt man Micha sprechen – und er spricht gerne – dann wird er über früher oder später, zum Beispiel, auf die Flüchtlingspolitik der EU zu sprechen kommen. Und er ist nicht einverstanden damit, dass wir Flüchtlinge aus Eritrea in Internierungslager außerhalb der europäischen Grenzen stecken, nein, das findet er nicht gut. Nachdem, so Micha Ungar zur Erklärung, unser Kontinent über zweihundert Jahre lang den afrikanischen Kontinent ausgebeutet hat. „Ich frage dich, Moritz, haben wir da eventuell eine Verantwortung? Kann das sein?“
Ich lernte Trainer Micha Ungar noch einmal richtig kennen, als er – ohne lange zu fackeln, ohne groß Reden zu schwingen – die Arbeit mit seinem Boxring Zehdenick über Nacht für beendet erklärte. Der Boxring Zehdenick: Diesen Club hatte Ungar aus einem jahrelangen Tiefschlaf geholt, Rhythmus ins Training gebracht und seine Sportler zu erheblichen Erfolgen geführt. Einer seiner afghanischen Boxer hatte Micha eher beiläufig zugesteckt, dass man sich im Fitnessclub in Zehdenick nicht gerade anständig gegenüber ihnen benommen hatte: gegenüber ihnen, den Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien. So etwas hörte sich Micha exakt einmal an, kein zweites Mal. Er machte den Männern vom Fitnessclub eine Ansage: alle Mann bitte mal herschauen, hier rüber, zu mir. Und: Auf Wiedersehen. Und gründete in der Nachbarstadt, beim SV Eintracht Gransee, die Abteilung Boxen. Training, wie immer: Dienstag, Donnerstag und Freitag. Nach zwanzig Minuten Aufwärmen: Seile weg. Bandagen wickeln.
Wir tranken das gute Pilsbier von Kulmbacher (edelberb).
Die große Terrasse.
Grill.
Feuerschale.
Die guten Kalbsbratwürste von Frau Koch aus Zehdenick (Mitbringels Micha Ungar).
Wiesenfest in Schirnberg.
Besuch des Alten Pfarrhauses bei Schönwald.
Trainer Micha Ungar erklärte mir zwischendrin auch mal, dass das Rauchen der Gesundheit nicht gerade zuträglich sei. Ach so, ja. MIST.
Trainer Micha sagt gerne: „MEINE Meinung …“.
Trainer Micha hat ein großes Talent, dem Vornamen Moritz an der richtigen Stelle im Satz einen kleinen Auftritt zu verleihen. Er macht das überhaupt gerne mit den Vornamen: Die Boys der Nationalmannschaft heißen bei ihm Nico, Antonio, Ilkay und Jamal. Als ob es seine Jungs wären, die er trainierte. Und es klingt dann augenzwinkernd, nach schwarzweißen Fünfziger-Jahre-Kino und, ja, auch schon liebevoll, wenn er meinen Vornamen aussprach: „Moooritz …“.
Heute Morgen, an einem langen Sonntagvormittag, hörten wir uns in der Musik der 50er und 60er-Jahre fest, sangen mit und führten kleine Tänzchen um den Frühstückstisch auf:
Patsy Cline.
Bo Diddley.
Den herrlichen reaktionären und todtraurigen Country von Jimmy Wakely, Gordon McRae und Hank Snow (the Singing Ranger and his Rainbow Ranch Boys).
Den umwerfenden Life-Auftritt der übergroßen Heulsuse Roy Orbison im Cocoanut Grove nightclub im Ambassador Hotel in Los Angeles am 30. September 1987. Mit ihm auf der Bühne: der Elvis-Gitarrist James Burton. Als Hintergrundsänger engagiert: Bruce Springsteen, Elvis Costello, k.d. lang, Bonny Raitt. Im Publikum: David Lynch, Billy Idol, Patrick Swayze, Billy Bob Thornton, Sandra Bernhard, KRS Kristofferson. Um Gottes Willen. And you can all hear it on the record. Micha Ungar und ich sein ehemaliger Schüler Moritz, wir schrieen vor Glück. If music was ever camp, it was back then.
Als Trainer Micha Unger schon wieder in seinem Auto nach Moschwalde sitzt, hängt im Haus noch der gute Geruch seiner Gauloise-Zigaretten. Gute Fahrt, Trainer Micha. Bis ganz bald.