19. November 2024, Dienstag
Sehr lustig mit Andi Bernard telefoniert, gestern war er zum ersten Mal in der auch nicht mehr ganz frischen Hipster-Zentrale Voo-Store in einem Hinterhof auf der Berliner Oranienstraße gewesen, wo ihn wundersame Mischwesen aus Mann und Frau mit Topfschnitt, Drei-Fünftel-Hosen, bunten Burlington-Kniestrümpfen und Glitzersternen auf der Backe darauf hingewiesen hatten, dass der Laden selbstredend nach Marken, nicht nach Geschlechtern sortiert sei. Auch ein Schock: 30 Jahre nach den Wildleder-Turnschuhen von New Balance und den Anzughosen von Helmut Lang war Andi mit einem Schlag eingefallen, dass ein paar neue Klamotten im Leben von uns immer älter werdenden Männern ab und an eine gute Idee sind.
Im nachmittäglichen Telefonierschwung hatte ich Andi dann gleich mit einer sehr aktuellen Einkaufsgeschichte aus Zürich geantwortet, auch superlustig, haha: Idee war eine schwarze Weste von Patagonia gewesen, wattiert, für den November geeignet, eventuell auch zum Unters-Tweedjackett-Anziehen, Hundert Mal schon gesehen, nichts besonderes, ein Klassiker. Und doch hatte ich beim Loslaufen in die für ihre Markenboutiquen und hübschen Accessoire-Läden bekannte Altstadt schon einen merkwürdigen Grimm gespürt: Eine einfache Patagonia-Weste würde es, in meiner Größe, natürlich nicht geben. Das war einfach so, weil das Leben 2024 so war — weil der Konsum im Zeitalter des Turbo-Kapitalismus einfach eine runtergekommene, kaputte Scheißsache war, die man hassen konnte, nicht etwa, weil der Kapitalismus ethisch und moralisch so ein absolutes Desaster darstellte und die Umwelt ruinierte, sondern weil das Einkaufen — nach Superpop und Hollywood, das letzte wirkliche Vergnügen — ganz praktisch einfach immer nicht funktionierte: Das Scheißzeug gab es einfach immer nicht in den richtigen Größen.
Also schon sinnlos stinksauer, bevor sie überhaupt nachgucken konnte, vor der armen Patagonia-Verkäuferin in der Zürcher Löwenstraße gestanden, mit der schwarzen Patagonia-Weste in der Hand, nach meiner Größe krähend: „Die Größe L? Die Größe L? DIE GRÖSSE L?“ Nein, sie hatte M und XL da, das Modell sei ein absoluter Klassiker des Sortiments, die nächste Lieferung aber nicht vor Februar zu erwarten. Und ich sagte dann, superzickig, überreizt, schon auch, weil ich dachte, das ist einfach so herrlich und so notwendig, so etwas zu sagen, und mein Durchdrehen als Enkel eines ehemaligen Thalia-Theater-Ensemblemitglieds natürlich auch ein bisschen genoss — der armen und natürlich unschuldigen und hilflosen Patagonia-Verkäuferin ins Gesicht: „Wissen Sie, woran mich Ihr Einkaufsparadies, Ihr schönes Zürich, erinnert? Es erinnert mich an die DDR. AN DIE DDR!“ Absolut ratlose, freundliche, mir noch einen schönen Tag wünschende Verkäuferin: Ade, uf Wiederluege. Ja, ich möchte mich natürlich sofort bei Ihnen entschuldigen, herzlichen Dank noch mal.
Eben ploppte irgendwo auf, dass sie heute endlich Scholz gegen Pistorius auswechseln: endlich! Und es war gleich auch: zu schön, um wahr zu sein.
Tapas und Rotwein in der Bodega, Münstergasse. Stattliche, gut gekleidete, silberhaarige Zürcher, jenseits der 70. Weit davon weg, sinnlos rumzukeifen. Im Reinen mit sich.
Am Abend dann: Eröffnung bei Karma. Das Schaulaufen der Zürcher Hipster-Haute-Vaulée, kein bisschen schlechter aussehend als das Berlin Kunst-Kasper-Volk, eher besser (Problem Zürich: Alle tragen zu viel SCHICHTEN von teurer Kleidung übereinander, tragt mal eine Carhartt-Jeans oder ein weißes T-Shirt zwischen den japanischen Concept-Store-Stücken, dann geht‘s). Das bunte Nichts by Nelly Rudin (1928 bis 2013, erst Grafikerin/ Plakatgestalterin, seit 1968 dann ganz bei der Konkreten Kunst). Trapeze, in der Einfassung/ im Rahmen in den Pop-Signal-Farben Rot, Gelb, Blau, Grün, die das Nichts, das WEISS DER WAND, zeigen. Bissl flach, bissl simpler Effekt. Und trotzdem sehr angenehme Assoziationen. Und Anna erklärt am nächsten Morgen beim Frühstück: Das ist ja auch genau die Grundidee von Apple — Leerraum durch Weiß. Und ganz bissl Grau. Ach so!
18. November 2024, Montag
Von den Hallen seines Anwesens in Mar-a-Lago mit schönen Grüßen in die ganze Welt: disruption.
Wenn nichts mehr geht — wie immer, einfach: Andrian Kreye lesen. Er kennt die ultrarechten Motherfucker, die jetzt die USA umkrempeln — Marco Rubio, Peter Hegseth, Matt Gaetz, Robert Kennedy Jr., Tulsi Gabbard —, alle persönlich aus seinen Reportagen und Interviews der letzten zwanzig, dreißig, vierzig Jahre. Und wenn er sie nicht persönlich kennengelernt hat, dann hat er schon vor zwanzig Jahren mit ihnen gescypt oder sie auf irgendwelchen TED-Konferenzen sprechen hören. Und wahrscheinlich ist AK der einzige Journalist in Europa, der Elon Musk schon vor zwei Wochen, gleich nach der Präsidentschaftswahl, eine Email geschrieben hat: „Okay boy, what are your plans? We have to talk. Yours sincerely, Andrian.“ Heute also Kreyes Essay im SZ-Feuilleton: „TABULA RASA. Donald Trump ist kein Irrtum der Geschichte. Er ist sogar die logische Konsequenz.“
Der Text spannt den Bogen von Franklin D. Roosevelt über Ronald Reagan eben zu Trump. Ach so, Bill Clinton löste mit seinen „Gobalismus“ einst die Graswurzelbewegung der Neunziger Jahre mit aus, die Wirtschaftskrise von 2008 war es, die den Libertären (Thiel, Musk, dem jetzigen Vize Präsidenten ab 2029, J. D. Vance) den letzten Schwung gab. Und mit dem besten dieser beiden Welten geht es am dem 20. Januar ins Weiße Haus, und die Punks, Zerstörer, Revolutionäre hauen alles zu Klump: „Gerade weil sie von den jeweiligen Ministerien und Behörden keine Ahnung haben, die sie umbauen sollen, können Leute wie Hegseth, Gaetz und Kennedy maximal für Zerstörung sorgen.“ Kreye zitiert in seinem Essay zuletzt die Rede des Youtubers und Preisboxers Jake Paul, der im Football-Stadion der Dallas Cowboys nach seinem Kampf gegen Tyson das neue/ alte Amerika beschwor: „Dies ist die Ära der Wahrheit und des Guten.“ Ach Leude, das wird echt schön.
Gestern den so called Felix Dachsel im Flugzeug getroffen — früher mal Young Gun beim Ressort Entdecken bei der Zeit (schon lange her), wo sich alle total in ihn verliebt haben, inkl. Giovanni di Lorenzo, weil er so schön unlangweilig Gas gab, dann Chefredakteur bei der Zeitschrift Vice (da gab es wahrscheinlich schön viel Geld, und trotzdem ist es doof, wenn einen de facto niemand liest), jetzt Stellvertretender Ressortleiter im seit Relotius immer noch verbotenen Gesellschaftsressort beim Spiegel und, Achtung, Uhren-Kolumnist bei Spiegel Online (Insta-Seite dachselwatch). Früher hießen solche Leute im Journalismus einfach, haha, Stars, heute würde man sagen: schlicht ein sehr guter und unterhaltsamer und korrekt arbeitender Journalist. Ab zirka 16 Uhr wird es heute bei uns darum gehen, dass wir in der Kronenhalle oder im Odeon oder (was hältst du davon, Felix?) im Bodega in der Münstergasse an so einem durchschnittlichen Montagabend nicht fünf Rotwein oder drei Whisky Sour trinken. Aber so wie wir, Felix Dachsel und sein betagter Kollege, drauf sind, wird es heißen: Wir nehmen erst mal zwei Alkoholfreie und, huhu, zwei Espresso. #Riesenthema Älterwerden.
Anruf von daheim aus dem Wald: so weit alles roger.
Heute wäre mein Vater 88 Jahre alt geworden. Und mein Sohn Carlo, Student der Philosophie und der Politikwissenschaften an der Sussex University in Brighton, wird 21. #Love. Herzlichen Glückwunsch.
17. November 2024, Sonntag
Wer war denn dieser scheußliche verfette Kerl, der vor zwei Tagen gegen Mike Tyson gekämpft hat? Jake Paul, nie gehört. Zwei Trump-Fans halten sich an die Absprachen, die ihre Manager vor dem Kampf miteinander getroffen haben. Und 60 Millionen Zuschauer — oder waren es 600 Millionen? — schauen zu. Wer je großen Bling Bling mochte, die Halbwelt des Boxens oder den Stadion-Pop, dem mussten bei diesem Kampf, der keiner war, die Tränen kommen, vor lauter tiefer Traurigkeit. Schon nächste Woche wird der scheußliche Quatsch vergessen sein, Gottseidank.
Anti-Depressions-Programm in diesen Tagen: Hugh Grants Auftritt in der NBC-Late Night Show von Seth Meyers. Sein wunderschöner Flanell-Blazer. Er wettert ab, mit dem herrlich windschiefen, von der gesamten Zivilsation angekotzten High-Grant-Gesicht, in einer null charmanten, nur grimmigen, ehrlich angekotzten, daher umso charmanteren, hinreißenden Art. Grant („I am an angry little man“) hated über: Leute, die zu langsam gehen. Rücksäcke („Take it off! Take it off!“). Wasserflaschen („Why does everybody need a water bottle?“). Leaf blower, also Laubbläser („I believe that everyone who uses a leaf blower or hires anyone to use a leave blower should have it rectally inverted“. Okay: ganz, ganz groß. Und dann sagt Hugh Grant das, was alles Menschen, die ein Herz haben, sagen müssen: „I am horrible.“ Großes, verzweifeltes Lachen.
Ganz am Ende, dreißig Jahre nach Drei Hochzeiten und ein Todesfall (oder vier Hochzeiten?), sage auch ich, nachdem es wirklich alle, alle die ganzen Neunzigerjahre über gesagt haben: Er ist vielleicht der charmanteste Mann auf Erden. Und, oh ja, wenn Hugh Grant angekotzt ist, dann kehrt Würde zurück, in die Welt der Nackten, Bösen, Kalten, der Stumpfen, Fett-Trainierten und Gesichts-Tätowierten und mit Dollars rektal Vollgestopften, der Trumps, Jake Pauls und Mike Tysons. Dann rettet das die ganze Welt.
Sehr schönes, ausladendes Gespräch mit Julia Voss und Martin Purwin am gestrigen Sonntagnachmittag, kurz vor der Alkoholstunde, über die Frage, was ein grüner Jagdblazer ist (Purwin: „Grüner Samt, Einknopf, Klassiker)“, und die Frage, ob ich so ein Ding brauche, wenn ich am 15. Dezember zur Drückjagd eingeladen bin (Vorabend: Reiseanzug, Abend nach der der Jags zu Tee und Abendessen im Haus: Jagdanzug). Wir sagten das, wir wir immer sagten: Wir stellen uns der Sache, wir sind dabei, wir sind keine Luschen, wir sind die geilsten Jäger. Freude, Strahlen, Gelächter. Rumheulen gilt nicht. #Bussi
13. November 2024, schon wieder Mittwoch
Eine Abteilung für effizientes Regieren.
EINE ABTEILUNG FÜR EFFIZIENTES REGIEREN. Du lieber Himmel.
Weiter: gebanntes Starren auf die USA. Wie geht das, einerseits die sogenannten Wahlversprechen mit Wucht und aller asozialen Härte umsetzen — er hat einen Ruf zu verlieren als der, der liefert (an der Stelle ist er durchaus beeindruckend), die wunderschönen Zölle, Handelskriege entfesseln, Migranten rauswerfen, Iran bombardieren, Ukraine zum Teufel jagen, mit Putin Partys feiern, das muss jetzt alles schnell kommen, andererseits das PROJEKT RACHE effektiv vorantreiben, er will seine Gegner einkerkern, auch das hat er immer wieder gesagt, die große alte Dame der Demokraten Nancy Pelosi ins Gefängnis, man kann nicht weggucken, man muss hingucken, es ist zu hart, gleichzeitig komplett irre und komplett real. Das Hirn platzt.
Ich brauche noch ein bisschen, sicher noch mal sechs Monate, um mir wirklich klar darüber zu werden, wie sich meine Arbeitswoche, Montag bis Freitag, je von 9 bis etwa 16 Uhr, verändert hat und jetzt konkret stattfindet — mir fiel zwischendrin auf, dass es das doch praktisch nie gibt, DASS SICH EIN LEBEN WIRKLICH VERÄNDERT, bei mir gibt‘s das, it is happening, folks, I mean, look at me, watch me doing this here, lest mein Zeug. Mein Leben im Wald ist — das war ja auch die Idee — maximal weit weg vom Berufsleben, das für mich für zirka 35 Jahre gegolten hat (Feuilletonist, Kulturreporter, Interviewer, dieses Zeug, dazwischen Theaterstücke, von denen nicht alle gut waren, Hilfe, #normal, der Roman, zu dem die bisschen namhaften Journalisten von den Literaturagenten etwa seit dem Jahr 1995, mit der Gründung der Agentur Landwehr & Eggers ging das los, mit sehr schönen Vorschüssen gedrängt werden, Reportagebücher). Meine Freundin in Zürich fragt gerne in Textnachrichten: „Na, zählst du wieder Bäume?“. Und ich denke: Exakt, genau das tue ich hier, I love it.
Der Tag an diesem Mittwoch:
Treffen im Forstbüro. Dies. Und das.
Fahrt in den Wald. Der Harvester stoppt, Plaudereien mit den Herren Randolph und Jacklestone, die dann, obwohl es eben Plaudereien sind, immer wieder in sehr konkrete Arbeitsgespräche hinüberschwappen (auf welche Länge sollen wir schneiden, sollen wir bei 200 Festmeter Stopp machen oder auf 300 gehen, wo legen wir das Langholz ab, Hoppla, da war aber jetzt viel Faulholz dabei, was tun, wenn die Pflanzen doch noch nicht Mitte November geliefert werden etc.). Man klärt sozusagen alles: nebenbei, zwischen den Bäumen stehend, zwischen den Gags und den Witzen, Zigaretten werden geraucht, sehr schön.
Dann trifft man die Wald-Herren noch mal zufällig oben am Hendl-Stand, sie sitzen im Pick-Up, die Zigaretten sind schon wieder draußen: was man gesagt hat, einfach noch mal sagen, aber eben doch ein bissl anders, anders pointiert. Sachen vertiefen. Gemeinsames Lachen ist, gleich dem Handdruck, eine verbindliche Abmachung, ein Vertrag (wir haben doch gelacht miteinander, also, das gilt jetzt).
Autowerkstatt Pfüller, Winterreifen: Hat der Forester Reifendruck-Sensoren? Kein Ahnung. Wenn, dann müssten wir die nämlich mitbestellen, ach so, also mitbestellen, bitte, Danke.
Baustelle Wüstenbrünn.
Telefonat Windenergie.
Besprechung Haushälterin.
13 Uhr Mittagessen: Fleischpflanzerl mit Kohlrabigemüse, leck mich, Diggi, ist das gut.
Langer, halbdunkler, diesiger fränkischer Nachmittag. Licht ist alles, bis zu sechs Glühbirnen brennen gleichzeitig im Arbeitszimmer. Blick in den Park. Die Jagdgöttin Diana ist schon hinter der extra für sie konstruierten Bretterverkleidung mit Metallverschlägen eingepackt, da wird sie überwintern, bis März/ April.
#Literatur
11. November 2024, Montag
Hassfrage „Haben Sie eine Deutschland-Karte?“ (Edeka). Ich kriege dann immer einen ganz doofen, altmodischen, längst nicht meinem intellektuellen Niveau und auch nicht meiner Gefühlslage entsprechenden Deutschland-Hass, so Blödmann-Punk um 1980: „Watt denn, scheiß Deutschland-Karte? Nie wieder Deutschland, hähä.“
Es ist so krass, was Caren Miosga und Olaf Scholz da beim gestrigen Ultra-Unterhaltungs-Show-Talk in der ARD geleistet haben, wirklich: beide. Es gibt, wie immer im Fernsehen, wenn es flutscht, fast zu viele Pointen, zu viele Higlights, zu viele auf Instagram verwendbare Zehn-Sekunden-Schnipsel (Problem Fernsehen allgemein: Es ist immer alles auf die Lacher, den Show-Moment, den „Das war Spitze“-Moment mit Hans Rosenthal angelegt), aber dann ist es doch einfach: zu brisant. Entschuldigung, aber der eine der beiden ist ja offenbar unser Bundeskanzler, dem gerade die Regierung auseinandergeflogen ist (bzw: der seine eigene Regierung gerade gesprengt hat, wie es Scholz-Gegner sehen und sagen würden) — das will man schon einfach hören, was er sagt. Und das ist Caren Miosgas hohe Kunst: Dass sie, im Live Talk immer wieder am Scheideweg stehend zwischen Entertainment und dem im Sinn von classic journalism verwendbaren Quote, sich in vier von fünf Fällen für das Zitat/ für den Journalismus entscheidet und gegen die klassische TV-Unterhaltung, gegen die Pointe. Ein journalistischer Coup liegt ja schon einfach darin, am Ende der Trump-wieder-da-Ampel-weg-Schocker-Woche dann wirklich den Kanzler in der abendlichen Sendung sitzen zu haben. Miosga: eine Frau im richtigen Beruf. Miosga immer auch: die flirtende Frau. Ist das gut oder eher schlecht? Sie kann es jedenfalls gewinnbringend einsetzen. Es macht auch jedenfalls Freude zu sehen, wie sie sich von Sendung zu Sendung immer — jetzt hätte ich fast gesagt — immer lockerer macht (Nein! Nein!), also einfach immer wohler fühlt, also: auf immer mehr sehr schöne professionelle Intuition zurückgreifen kann. #professionalism
Und weiter: Was ist eigentlich mit Scholzens‘ Augen los? Er sieht ja aus wie jemand, der in Tausend Metern Tiefe unter der Wasseroberfläche leben muss, wirklich so mit Tausend Tonnen Wasser auf dem Kopp. Braucht er einfach mal wieder ein gutes Bett im Schweizer Engadin und acht Stunden Schlaf? (Wer braucht das nicht, sorry, sorry).
Eine wirkliche gute Frage erkennt man daran, dass sie mit einem einfach Ja optimal und gleichzeitig absolut sensationell gut beantwortet ist. So in Minute 13 der Sendung, als die vielleicht schönste politische Frage des Jahres 2024 fällt und die Fragenstellerin in einen ganz und gar ungespielten, ganz echten Zwei-Sekunden-Lachanfall ausbricht:
Miosga: „Wenn ich das nächste Mal jemandem schwere Vorwürfe machen möchte, würden Sie mir raten, dass ich diese Vorwürfe vom Zettel ablese, so wie Sie Ihre Wutrede vom Prompter abgelesen haben?“
Scholz: „Ja.“
Miosga: „HAHAHA.“
Mist, bissl müde heute, die 28 1/2 Stunden Autofahrt von Paris über Zürich nach Oberfranken (es waren 13 Stunden, aber das reicht auch) waren — anders als man es beim Fahren empfindet — doch nicht nur schön und erholsam.
Vermisst werden, in so einer herrlich grauen und nassen und vernebelten November-Woche im Wald:
Martin Purwin.
DJ Hell.
Sabrina Dehoff.
Till Helmboldt.
Bruno Brunnet.
Bessim (Paris Bar).
Adam Soboczynski.
Paul und Carl Seehausen, Zehdenick.
Mein Tante Eli, auch Gabriele Thiessen Frfr. von Zedlitz und Leipe, (1947, Landshut bis 2024, Hamburg).
#Normalität
Gelesen werden müsste: Julien Green Treibgut, Roman, Hanser, München 2024 (329 Seiten, dann gleich drei Nachwörter, oder wie ist das?, editorische Notizen, Anmerkungen). Nicht rumjammern, heulen. Einfach hinsetzen, Licht an, vor dem Lesen Zähne putzen ist auch immer nicht schlecht, los.
7. November 2024, Donnerstag
Bewegung: immer gut.
Gar nicht mehr durchblicken: auch immer gut.
Vom neuen Finanzminister Jörg Kukies nur ganz entfernt oder noch gar nicht gehört haben: auch immer ein gutes Zeichen.
Was Volker SM Wissing, unser Verkehrs-Officer, da gerade macht, auch einfach nur: Hä? Will er jetzt Mitglied bei der SPD werden?
Wie heißt es beim Boxtraining: Ellbogen runter zum Körper, Moritz, die rechte klebt am Kinn. Kleine Schritte. Und: aaaaatmen nicht vergessen.
Bernd Ulrich hat recht in seinem heute schnell rausgehauenen Zeit-Essay, dass „Faschismus!“-Krähen nichts bringt. Ich tue das ja hier an dauernd, leider, und auch hier hat Ulrich recht: Es ist ein Ventil für die eigene Angst und Ultra-Abgeturntheit, und natürlich möchte man seine Verachtung für die Dreckschweine von Trump und AfD zum Ausdruck bringen, auch, ja, um sich eine Minute lang gut zu fühlen. Ein Gedanke, ein Konzept, das die Unkultur des neuen Populismus stellt, ist das noch nicht, geschweige denn eine eine wirkungsvolle Gegenoffensive oder etwas, das man einen argumentativen Geländegewinn nennt. Ich muss mal gucken, ob mir noch etwas anderes einfällt, als „Faschismus!“ zu krähen (bisher leider nicht).
Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug nach Paris, weil wir eben doch Popper sind (man sucht es sich nicht aus) und weil das immer so war, dass wir auf größere und wirklich erschütternde Krisen in Europa und der westlichen Welt mit einem Besuch der Venus von Milo im Louvre reagieren. Sorry, sorry.
Gruß an meinen alten Boxtrainer Micha Ungar in 16792 Zehdenick. Ich würde ihm jedes politische Amt zutrauen (Gruß an die Kollegen in Berlin, ja, ist doch nicht ganz ernst gemeint). Er ist immun gegen Faschismus. Er hat die Nerven. Er blickt durch.
6. November 2024, Mittwoch, #Dunkelheit
Haben die Demokraten in den USA dieses Mal, nach der nun zweiten Niederlage gegen Trump, vielleicht Lust, sich schon bald, also praktisch ab sofort, für die Präsidentenwahl #2029 nach einem geeignetem Kandidaten/ einer geeigneten Kandidatin umzusehen, die einem faschistischen, populistischen Zerstörer und Killer das Wasser reichen kann — oder wollen sie das wieder vier Jahre lang laufen lassen, schön locker, depressiv und dödelig unentschieden, und wieder kurz vor der Wahl einen sympathischen Winkewinke präsentieren, die mit JayLo und Bruce Springsteen auf der Bühne steht und hübsche Lieder singt?
Scheiße.
Scheiße.
Jetzt ist die ganz, ganz große Scheiße passiert.
Ein faschistischer Zerstörer führt the Mother Nation, das Land auf Erden, das ich naturgemäß am meisten liebe — überhaupt das einzige Land auf Erden, das ich liebe.
Und ich dachte, ein zweiter Trump-Sieg, das ist so umfassend furchtbar, das weiß doch auch wirklich jeder, das wird schon deshalb einfach nicht Wirklichkeit werden. Optimismus war Räson d‘être. Und das ist vielleicht das furchtbarste an diesem 5. November 2024: dass sich die zynischste, die kaputtesten, die todessehnsüchtigen Kräfte durchgesetzt haben. Es ist auch ein ein Sieg der vollständigen Dunkelheit über das Licht (um eine gerne verwendete Allegorie des orangefarbenen Trump zu benutzen) und ein Sieg der Todesteufel à la Roger Stone (siehe ARD-Doku des Dänen Christoffer Guldbrandsen).
Ist das der bisher dunkelste Tag in unser aller Leben? Ja. Das ist er.
Tag der Niederlage, Tag der Tränen.
Nur fassungslos, Entschuldigung, das braucht nun wirklich niemand zu sein.
Und die Niederlage stand früher fest, als viele dachten.
Gott helfe der Ukraine, dass sie nun kämpfen mögen, wie einst Afghanistan mit dem russischen Aggressor kämpfte.
#pain
5. November 2024, Dienstag, Judgement Day
Mit Herrn Randolph und dem Harvester-Fahrer Doktor Jacky Jacklestone im Wald. Die beiden Männer des Waldes überzeugten einmal mehr durch ihre Sicherheit im Umgang mit allen ihnen gestellten Aufgaben (soweit ich das überhaupt beurteilen konnte) und durch ihren komplett lockergeschüttelten, von Spuren des Waldes übersäten, komplett unfakebaren Style (wattierte Karohemden, Hüte aus jägergrünem Fleece). Jacklestone erzählte, dass der Harvester beim Akku Zicken machte – kein Thema, dann bauten er eben, bei 5 Grad morgens um acht im Wald, einen neuen Akku ein.
Welchen Harvester benutzen wir hier eigentlich, Mister Jacklestone? Ah ja, den 1270 G von John Deere (Farblichkeit: grün, gelb, sieht aus wie teures Spielzeug). Der Rückezug, der heute im Einsatz ist, wird übrigens der große genannt (Langholz für das Sägewerk Rockefeller in 95158 Reicholdsgrün).
Themen sind, natürlich: der Zustand der Ampel (was will Lindner?, fragte Randolph, keine Ahnung, so meine wahrheitsgemäße Antwort). Und natürlich die USA-Wahl. Noch mal die Frage: Was sind das jetzt noch mal genau, die bescheuerten Swing States, wieso überhaupt Swing? (Randolph: „Gerade gestern wieder bei RTL erklärt bekommen, ich weiß nur, dass es eigentlich gar nicht so kompliziert ist, kapiere es aber trotzdem nicht.“) Warum wählen die nicht einfach wie bei uns? Große Freude darüber, dass Herbert Grönemeyer der CDU seinen Song Zeit, dass sich was dreht verboten hat.
Deutsch-polnische Terrorzelle Sächsische Separatisten (Ermittlungen liefen seit Monaten, Zugriff).
Michael Rehwagen später zu Würschtl und Kraut da.
DJ Hell meldet aus New York: Sieht nicht gut aus.
Christl, sag bitte die Wahrheit (wir brauchen dich, Christl).
Die Angst nimmt stündlich zu (#Trump).
2. November 2024, Samstag
Unten vor dem Haus unseren Herrn Roth getroffen, er kümmert sich um Garten, Bäume, Wege, jetzt im Herbst recht er das Laub. Und ich sagte, vors Haus tretend, auf halbem Weg zum Auto: „Guten Morgen, Herr Roth, wie geht es Ihnen?“ Und als nichts weiter kam als ein verhaltenes Nicken: „Viel zu tun, was?“. Und er guckt mich wortlos an, und ich sprach zu mir, kopfschüttelnd, und meinte damit natürlich nur mich selbst, den vors Haus tretenden Chef, nicht Herrn Roth, der sich zu seiner wohl verdienten Rente ein bisschen was dazu verdiente: „Alter, wie doof kann man sein, das musst du hier aber noch lernen.“
Seite Eins Frankenpost heute: „Furcht vor Trump in Oberfrankens Wirtschaft.“ Und im Text heißt es: Gut 200 Unternehmen der in Bayreuth ansässigen Kammer haben Niederlassungen oder Produktionsstätten in den Vereinigten Staaten. Im vergangenen Jahr waren die USA mit einem Volumen von 28,46 Milliarden Euro der größte Exportmarkt für Bayern.
Seit gestern läuft auf meinem iPhone: Old Man Trump, der Podcast der beiden New-York-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, Christian Zaschke und Boris Herrmann, von Zaschke hatten mir meine Freunde Lars Jensen (New York) und Philipp Oehmke (viele Jahre in New York für den Spiegel) immer wieder und immer sehr gerne und respektvoll erzählt, in den vergangenen sieben Jahren hatte man von ihm eine wahre Stampada von Trump-Texten und USA-Reportagen lesen können, aus einer herrlichen Tageszeitung-Geschwindigkeit heraus geschrieben und mit einer zu Ende raus dann sehr nachvollziehbaren Verbitterung und mit wunderschönem Grimm, auch mit Verachtung für die Kaputtheit des Bald-Wieder-Präsidenten.
Die Grundfrage des Podcasts ist einfach gut: Wie konnte eine Witzfigur so mächtig werden?
Sein Kollege Boris Hermann wird Zaschkes Korrespondenten-Stelle nun nach sieben Jahren übernehmen, für das sechsteiligen Trump-Hörspiel schmeißen die beiden noch mal alles zusammen, Zaschkes Routine und Kennerschaft, seine Schwärze und seinen Zynismus, und Herrmanns schöne Unverbrauchtheit, seine Ungeduld und Neugierde auf den für ihn noch zu erobernden Kontinent. Wie in der Politik ist es natürlich sinnvoll, dass auch Korrespondenten-Stellen nicht auf ewig vergeben werden, sondern nach drei, fünf oder, wenn es lange dauert, sieben Jahren enden, es wäre bei Christian Bad Zaschke sonst wohl so wie bei Hunter S. Thompson ausgegangen, der Reporter der leading German daily wäre auf Halluzinogenen und mit einer abgesägten Schrottflinte im Kofferraum seines Pick Ups durch amerikanische Wüsten geirrt, auf der Suche nach neuen O-Tönen, die ihn erlösen von seiner Verachtung und den immer selben, schon fertigen Sätzen im Kopf, und nach einem Einstieg für den finalen Trump-Nachruf.
Die sich jetzt schon, gegen halb zwei mittags heruntersenkende Dunkelheit ist ideal, ideal um Text in den Computer zu tippen. Und das mit der #Angst wird leider nicht besser. Ich stehe auf der Seite der Kranken, der Ängstlichen, der Verwirrten, der Einsamen, der grundlos Traurigen, der schwer Verletzten, der Gebeugten, der Zitternden, der Nachts-wach-Liegenden, der immer noch Einsameren, die überhaupt niemanden mehr haben, mit dem sie sprechen können, bei denen, denen die Birne langsam weich wird, sorry, sorry, nur da bin ich, das versteht sich doch ganz von alleine, das ist #normal.
31. Oktober 2024, Donnerstag
Im Moment sind es besonders viele SMSse, die zu wirklich nächtlicher Stunde bei mir eintreffen, um eins, um zehn nach drei, um fünf, egaler Kram, natürlich („Uslar, Bier, Biiiieeer ..“ und „Woher hast du den kleinkariert bunten Schal? Hatte auch mal so einen“), das Handy bleibt still, da es wie immer auf lautlos gestellt ist, aber ich bin offenbar selbst viel wach und checke, was reinkommt, Kopf fährt hoch, Griff zum Handy, Lesebrille, am besten gleich zurückschreiben, Hallo, ich höre dich, ich bin auch wach. Und ich dachte, gleich gestern Nacht, das Handy immer wieder hochnehmend und weglegend: Liegt es an der Realität der nahenden Trump-Wahl, dieser unaufhaltsam, mit lautem Ticken ihrer Explosion näherrückenden Bombe, diesem comichaft alptraumhaften Judgement Day, der so brutal schlimm ist, dass, so der Reflex, am Ende dann doch alles nur halb so schlimm sein kann, dass die Leute keine Ruhe geben und mit leuchtenden Displays nachts in den Betten sitzen?
#Handytrost
Es ist, wie Moritz Schularick vom Zentrum für Weltwirtschaft in Kiel gestern in den Tagesthemen erklärte, mit der ganzen schönen Lakonie und Unbeteiligtheit des Wissenschaftlers: In wenigen Tagen entscheiden rund 20.000 Wechselwähler in Wisconsin oder Michigan über das Schicksal der Erde und die Sicherheit Europas (und natürlich die Frage, ob 70.000 nordkoreanische Soldaten die Ukraine überrennen und das vom Westen verlassene Land und seine Menschen endgültig dem Abfalleimer der Geschichte und dem Schlächter, Vergewaltiger und Massenmörder Putin überlassen).
Bewunderung für Marie-Agnes Strack-Zimmermann, meine Heldin — ja echt, sie, Comme-des-Garçons-Marie-Agnes-Strack-Zimmermann, die mit dem tollen Style —, ich bewundere sie dafür, wie sie immer wieder das offenkundig Richtige und Notwendige sagt und noch mal und noch mal sagt, die notwendigen Worte immer und immer wieder in die allgegenwärtige Senilität und Wirklichkeitsverweigerung und in die schafsartig dumme, verbohrte Mützenich-SPD und die zynisch vor sich hinseiernde DDR-Partei von Sahra Wagenknecht hineinpredigt und unermüdlich WAFFEN- und MUNITIONSLIEFERUNGEN für Selenskyj fordert, allein wegen Strack-Zimmermann würde ich bei bei der nächsten Bundestagswahl, die dann wohl schon im März stattfindet, Strack-Zimmermann wählen (ach so, sie ist ja Europaparlament, nicht Bundestag, auch gut, noch besser, egal) — gründe deine eigene Partei, Marie-Agnes, ich wähle dich für Licht, für Frieden und Freiheit, für mein Recht, nicht-russisch und gay und weich und faul und total sensibel und antiautoritär und total demokratisch zu sein, kann man sie bitte irgendwo direkt als Pistorius-Nachfolgerin aufstellen (keine Sorge, ich werde nicht FDP wählen, mein Körper kann das gar nicht, sorry, sorry).
Ich höre Leute, die sagen, sie würden erst am Mittwoch um acht Uhr morgens wieder das Handy anschalten — so abgeturnt seien sie vom Hysterie-Tremolo um die Rückkehr des orangefarbenen, die Welt mit seinem großen Schweinepenis fickenden Pimmelmann Trump. Ich verstehe das. Aber: Das ist nicht meine Methode, mit meiner Angst umzugehen, ich muss immer ganz viel reden, wir müssen das Böse gemeinsam wegquatschen, come on. Und natürlich, ich werde Dienstagnacht am Fernseher hängen und den Untergang, diese komplette Scheiße, live angucken.
Habe viel häufiger als Sex: Rückenschmerzen. Rücken stärken, es lohnt sich. Ihre AOK Bayern, die Gesundheitskasse (bei mir ist es, haha, natürlich genau andersrum, ich hatte noch nie Rückenschmerzen, haha).
Wie ich das nennen soll, was ich hier schreibe, meine Meldungen aus dem Wald, das war immer noch so eine Frage — Blog fand ich so nineties-haft lächerlich und abgelaufen, Kolumne sachlich falsch. Jetzt weiß ich es, gestern Nacht fiel es mir beim Wachliegen und Angst-Haben-vor-Trump siedend heiß ein, es ist meine Ein-Mann-Zeitschrift, genau so nenn ich das das hier, das ist es.
30. Oktober 2024, Mittwoch
Seit acht Tagen nichts geschrieben, wirklich gar nichts, und mich hier nicht ausdrücklich abgemeldet, sorry, sorry, das darf nicht zu oft vorkommen. Problem: wenn der Autor des Killer-Blogs Meldungen aus dem Wald sich gleich über mehrere Tage nicht im Wald aufhält — es verändert den Swing des Geistes und damit die Möglichkeit, hier überhaupt irgend etwas zu sagen, natürlich ist das so, auch das darf nicht zu oft vorkommen, sorry, sorry, schon klar.
Leude, die ich beim Igor-Levit-Konzert am vorgestrigen Montagabend in Berlin im Foyer der Großen Philharmonie zufällig traf, eine Auswahl:
Paul Ronzheimer, Kriegsreporter und sicherlich auch immer noch on board der Chefredaktion der Bild-Zeitung, natürlich auch namensgebender Podcaster des überaus erfolgreichen Podcasts Ronzheimer
Joachim Gern, Fotograf (nicht angesprochen)
Herr Müller, in Hamburg stadtbekannter, stets weißbejackter, schockierend geistescharfer Bartender im Hotel Vier Jahreszeiten, Hamburg, mit Freude an, für Bartender natürlich total verbotenen politischen Diskussionen (erkannte ihn ganz aus der Ferne am durchsichtigen Bill-Blass-Brillengestell im Parkett, leider auch nicht gesprochen, er war zu weit weg)
Daniela Katzenberger, Trash-Ikone und ihr Immer-wieder-und-immer-noch-Mann Lucas Cordalis (ausführlich unterhalten, ich soll schön grüßen, es geht ihr gut, Lucas war leider die ganze Zeit am Handy, schade, schade)
Antonia Baum, Mega-Autorin, unter anderem Die Zeit Feuilleton (ich zu ihr: „So schön, dich zu sehen, ich bin heute extra wegen des Konzerts reingekommen“, sie, wie immer ziemlich lustig, auch schlagfertig: „Ah ja, gleich reingekommen, ja?“)
Evelyn Roll, die Grande Dame der Süddeutschen (darf man das so sagen?, sorry, sorry), immer auch Merkel-Biografin, mit ihrer blonden Passage im vielen, dunklen Haar stets gut auf die Ferne zu erkennen, wie immer war es ein sehr gekonnt beiläufiger Auftritt („Ich weiß ja schon wieder alles, du bist jetzt mit einer ganz tollen Frau in Zürich zusammen, das hat mir die Dings erzählt, ich weiß, ich weiß, so toll, ich freue mich, it will last, mein Lieber, it will last“).
Igor spielte, für mich überraschend, nach der Chromatischen Fantasie und d-Moll-Fuge von Bach dann doch nicht die C-Dur-Fantasie von Schumann (hatte mich sehr drauf gefreut), sondern die Brahms-Balladen. War dann letztlich doch nicht so überraschend, wie ich später herausfand, es stand ja genau so im Programm. Ich habe nie — nie — einen so tosenden Applaus für einen Pianisten erlebt, und ich komme hier, in Deutschlands sicherlich schönsten Konzertsaal, seit meinem etwa siebten Lebensjahr immer wieder hin. Das Publikum rauschte nach vorne, es war richtig Druck auf dem Kessel (nach dem vierten Satz des Liszt‘schen Transkription von Beethovens Siebter, die Igor mit dem ganzen Körper förmlich rausgebrettert hatte). Und Igor, der Pianist, auf den sich gerade alle einigen können, schien beim tosenden Applaus, der von oben, unten, von hinten, von vorne und von allen Seiten kam, mit seinem ganzen Körper zu sagen: Ja, klatscht. Brüllte mich an. Ich finde auch: Das war heute sehr gut.
Beim Drink im Grill mit dem einladenden Onkel saß dann, an Bartisch Nummer drei, gemeinsam mit Igor und unserem Freund Paul, der wirklich immer besser aussehende, enorm madmanige Springer-Inhaber und -Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner (wie sagt man da? Ach so, stimmt ja: „Guten Abend“).
Was ist morgen? Halloween? Entschuldigung, aber darunter kann ich mir gar nichts vorstellen. Ich bin Zentraleuropäer, im Jahr 1970 geboren, in den letzten zirka 15 Jahren habe ich geistig leider stark abgebaut (sorry, sorry, Riesenthema #Älterwerden).
Morgen außerdem, um 13 Uhr: zweite Besprechung zur Forsteinrichtung, die noch in diesem Herbst angegangen werden soll. Waldinventur. Errechnung des Hiebsatzes, der dann für die nächsten zehn Jahre gilt.
Noch zwei Sätze dazu, was es praktisch immer ZU BEDEUTEN hat, wenn hier tagelang kein Text erscheint: It is love. Sorry, Freunde, aber exakt das ist es. Vollkommenes Aus, totaler time out, Zeitkapsel, totale Gnade. Alles klar, Leude, dann wissen wir das jetzt auch. Es gibt tatsächlich nichts zu melden, nichts rauszuhauen, nichts klarzustellen, wenn das Liebesding im Kopf ist, im Körper, in da house. Habt Geduld mit mir, Leude, Danke, Danke. Morgen mehr.
22. Oktober 2024, Dienstag
Das Klavier in der großen Halle spielt: Tous Les Garcons Et Les Filles(Françoise Hardy). Oh my God. Wusste ich gar nicht, dass das auf einem Barklavier funktioniert.
Dann: How Deep Is Your Love, Bee Gees.
Dann: The Way You Look At Me. Die sicher nicht geniale, späte Swing-Version von Bryan Ferry (1996). Alles, alles ist in diesem Song, dien komplette Welt. Tränen.
Das Bier: bitte in einem Weinglas. Danke, Danke (Dieter Meier).
Andreas Isenschmid (muss man hier nicht vorstellen, seit dreißig Jahren Stammgast) und Christoph Marthaler, mit ihren Frauen am Tisch, tauchen jetzt richtig in die Unterhaltung ein: Marthaler erzählt etwas, Marthaler style, sicher leider wieder wirklich sehr lustig, über das gerne alle noch viel lauter lachen würden.
Mit dem einladenden, sehr nahen Familienmitglied (weiblich) über die Paare an den anderen Tischen im Speisesaal geplaudert. Eigentlich über nichts anderes gesprochen. Es war so kurzweilig. Grandiose Schwulenpaare (ganz normal), Schwule sind einfach die führenden Menschen auf Erden, beste Bärte, beste Frisuren, funkyste Gesichtsausdrucke, am besten aussehende, dünn trainierte Körper, sie haben das easy game der Abendgarderobe am besten drauf (es sieht null verkleidet aus), herrlichste Art, ihre gepflegte Langweile zu zeigen, ohne sich dabei gegenseitig zu verletzen (es heißt einfach: Mir geht es gut, Baby, mir geht es gut), ein gay couple saß sich BÜCHER LESEND am Esstisch gegenüber (einer hielt Anne Applebaums Die Achse der Autokraten vor sich, der andere eine der uralten, rote gebundenen Salto-Wagenbach-Ausgaben), und es sah nicht ausgedacht aus, es ging. Dann musste ein noch wirklich ziemlich junges Paar analysiert werden, er wohl so 40 (dunkler Typ, schmal, bissl sportsüchtig, früher hätte man gesagt: sicher Russe), sie vielleicht 28 (oder noch jünger, wirklich jung, iranischer Typ, Sixties-artig dunkle Augen und hohe Wangenknochen). Und meine in den Sechzigerjahren sozialisierte Begleitung sagte: „Jetzt denkt sie sicher, dass sie mit ihm schlafen muss, nur weil er sie in ein teures Hotel einlädt.“ Und ich entgegnete, obwohl mir dieser altmodische Sixties-Feminismus natürlich gefiel, nicht ganz ernst gemeint, an der Stelle aber doch wirklich interessiert an einem Gespräch: „Ist das denn nicht ein schöner Grund, mit jemandem zu schlafen?“ Gelächter, in so einer komisch ernsten Art (ich erkenne an, dass du da etwas Lustiges sagen wolltest, aber das hat nicht geklappt). Dann im ernsten Ton, meine sehr nahen Verwandte setzt jetzt ihren Punkt: „Nein, das ist furchtbar, wenn Frauen sich diesen Druck machen.“ Und ich dachte über die sehr nahe Verwandte nach, die seit 1979 maßgeblich für meine Erziehung mit zuständig gewesen war: „Sie sieht doch ganz glücklich aus, findest du etwa nicht?“. Und sah, dass sie, das Cheekbone-Baby, während er irgendwie versuchte, nicht alt zu sein, andauernd in ihr Mobiltelefon guckte (schrieb sie ihrem Freund, der von ihrem Ausflug mit ihrem Liebhaber nicht wusste, schrieb sie einem alternativen, während des Waldhaus-Ausflugs warmgehalten Liebhaber, oder checkte sie nur das saudumme Instagram? Über all das musste sich der schmale, sportliche Russe, der doch nur mit ihr essen gehen wollte, sich jetzt Gedanken machen), und er, der schmale, sportliche Russe mit der viel zu jungen Frau, hatte sofort meine Empathie.
Idee: Was mittelmäßige Schreiber nicht schreiben können, während ein Barklavier im Hintergrund klimpert, das sollten sie ganz vergessen. Und den schreibenden Nobelpreisträger überlassen. Wir, das schreibende Fußvolk, brauchen bisschen Geklingel nebenbei. Ich möchte damit sagen, dass ich, während der Piano-Mann (Don‘t shoot the guy!, Elton John) gerade Fool On The Hill der Beatle spielt, die Notizfunktion meines iPhones volltippe, und es fließt nur so aus mir heraus, es läuft doch ziemlich gut.
Jetzt reicht‘s aber mal wieder mit dem Scheißluxus. 😘😘. Es ist nicht ganz wahr, dass Wohlsein enorm uninteressant macht (und eine brutale Gedankenleere zur Folge hat), aber doch fast. Mein Superhit Deutschboden hätte jedenfalls nicht im Waldhaus in Sils Maria spielen können. Morgen ist Abfahrt, nach fünf Tagen großen Salons. Wie sagte das einladende Familienmitglied heute, so lässig nebenbei, vom bis 22 Uhr geöffneten Kassenhäuschen zum klimpernden Klavier zurückkehrend? „Ich liebe es einfach, Geld auszugeben.“ Strike. Punkt.
20. Oktober 2024, Sonntag
Das Waldhaus-Wohlsein legt sich gnadenlos bleiern über den fortgesetzt Bier und Whisky Sour trinkenden und Sonntagszeitungen lesenden Körper, I can not move. Ich kann an den absolut schönen, den vollendet stilvollen Orten nichts Geiles denken, das war schon immer so, sorry, sorry, sorry, der Ort braucht mich ja nicht. It is so cliché, but it is also true. Ich brauche die Oberfranken-Mittelmäßigkeit in meinem Leben, um herrlich fitten shit rauszuhauen, sorry, sorry, sorry, sorry.
Autowandern gewesen. Wieder einen ganzen Tag lang (haha) nicht im Spa gewesen. „I miss my baby“ (Fast Love, George Michael, 1996).
Optimismus/ Positivität als politisches Programm: Wer glaubt noch an einen Sieg der verzweifelt lachenden Kamala Harris über den geil orange-rosa leuchtenden Asozialitäts-Knubbel Donald Arschloch Trump? Bitte bei mir melden (info@meldungenausdemwald.de), ich schreibe aber definitiv nicht zurück.
19. Oktober 2024, Samschtig (Sonda)
Im Waldhaus (a family affair since 1908). Endlich! Hier gehört er, der Mann aus dem Wald, doch hin (haha). Die hohen Decken. Die mönchische Schlichtheit. Die verrückten orangefarbenen Lärchen und der Fels vor den Panorama-Fenstern in der großen Halle. The motherfuckin’ Streichquartett. Der schönste Fumoir der Schweiz (Anna Meier). Die blubbernden V8-Motoren auf der Einfahrt vor dem Hotel und das wunderbar elegante Personal (heute beige Anzüge mit ganz feinem hellgrauen Karo und matt rosafarbenen Krawatten). Mein Lieblingsdetail: das brutalistische Betondach vor der Eingangstür der grün-weißen Jahrhundertwende-Fassade (sooooo elegant, oh my God). Das sehr lächerliche und sehr schöne Nachspielen der Belle Epoque und der heilen, in vielem natürlich schon kompletten ruinierten Welt vor den beiden Weltkriegen. Die wenigen Leute, die es wirklich wissen, hatten kürzlich noch mal gemeldet: Von den ganz wenigen am Ende dann machbaren Luxushotels auf Erden sei das Waldhaus dann das einzige wirklich bewohnbare Haus. Weil der Luxus hier so durch und durch subtil und null protzig eingestellt ist. Luxus ist: eine acht Meter hohe Zimmerdecke. Den Rest kannst du vergessen.
Lese eine apokalyptische Deutschland-Analyse in der NZZ: „In der Abwärtsspirale“ (einstürzende Brücken, Züge im Schneckentempo, ein Land verlottert … „Deshalb darf die Lockerung der Schuldenbremse kein Tabu sein“, verstehe). Es ist so erfrischend, nach meiner dauernden Süddeutsche-Lektüre den mir ganz fremden Sound der Rechten zu lesen, der im Kern ja wohl immer sehr schwarz und lustvoll untergangs-fixiert war. Alles geht den Bach runter, liebe Leude, liebes Zeitung lesendes, in der Halle des Waldhaus tafelndes, feine Pupse lassendes, noch etwas enorm gut Verdauliches, Saisonales, Regionales bestellendes Upper Class Volk. Es sei denn, es kommt noch schlimmer. #allesklar
Die sehr lieben Freunde Matze und Boris schauen schnell auf eine Bolognese und einen 14-Uhr-Whisky-Sour in der großen Halle vorbei, genauer: auf je eine Bolognese, zwei, drei Whisky Sour und einen Rusty Nail. Ich glaube, was wir da hatten, nennt man echt Gespräche (we go way back in time, way back). 😘😘
Die mir ganz fremden Spa-Welten (was macht man da noch mal? Schwitzen, die Poren öffnen, erst ganz heiß, dann ganz kalt?). Jetzt weiß ich kurz nicht, ob ich heute noch brutal saufen soll oder eher nichts mehr trinken soll. Findet sich alles. #Normalität
Ein Projekt der Langsamkeit (Peter Handke, 1976).
15. Oktober 2024, Dienstag
Den Spiegel-Kanon der 100 besten deutschen Bücher des Jahres, falsch, der letzten hundert Jahre, von 1924 bis heute, gelesen, ach was, genau studiert. Natürlich total beleidigt gewesen, dass mein Deutschboden (2010) nicht dabei war, das gehört doch da voll rein, aber hey, normal, damit machen die wahrscheinlich ihre Auflage (mit beleidigten Autorinnen, die das verkehrt finden, dass ihr Roman es nicht in die Spiegel-Auswahl geschafft hat). Kanone sind extrem sinnvoll und immer wieder neu auszurufen, weil sie, bestenfalls, nicht etwas über die Zeit sagen, der sie sich widmen, sondern die Zeit, in der sie entstehen. Das Kriterium für einen guten Kanon muss natürlich in der Zahl der Bücher liegen, von deren Existenz man absolut keine Ahnung hatte, das wären hier unter anderem:
Fritz Rudolf Fries‘ Der Weg nach Oobliadoo (1966)
Franz Führmanns Von Feuerschlünden (1992)
Christian Krachts Faserland (1995), haha, kleiner Gag
Christoph Heins Landnahme (2004)
Andi Bernards Kritik von Handkes Wunschloses Unglück hat mich gerührt, das geht ja gar nicht anders (er, Andreas, empfahl mir einst das Buch, als ich ihm sagte, ich habe, glaube ich, noch nie etwas von Handke gelesen, ist der denn gut?, das muss so, geschätzt, 1998, in der goldenen Münchner Zeit, gewesen sein, des Freundes Werbespruch lautete damals, das weiß ich auch noch: hundert Seiten, das liest du in einem guten Nachmittag weg), allein die drei in seiner Spiegel-Kritik erwähnten direkten Zitate aus dem Roman machen einen fertig („Im Zorn schlug sie die Kinder nicht, sondern …“).
Und weiter im Spiegel, man liest das Blatt ja dummerweise nur noch alle zwei, drei Jahre, was natürlich falsch ist. Das Interview mit Thomas „Ich verstehe den Zeitgeist nicht“ Gottschalk ist sehr, sehr toll, nicht, weil er so ein interessanter Trottel wäre (ist er auch), sondern weil so viele Trottel in Deutschland, Jahrgang 1950, in deutschen Kleinstädten aufgewachsen, wie Gottschalk sind — sie haben bloß keine Plattform, von der aus sie sprechen können, kein politisches Amt, keine Yogaklasse, keinen Podcast, keine Radiosendung etc.
Jetzt mal im Ernst: Thomas Gottschalk ist so ein wahnsinniger Idiot. Wie er sich über eine Halle voller brüllender Take-That-Fans lustig machte, das vergessen wir ihm nicht. Es ist außerdem ganz unverzeihlich dumm, als Mann ganz gleich welchen Alters die „Ich gehe nicht allein mit einer Frau in den Aufzug“-Nummer zu erzählen, you can not win, und auf den dummen, dummen Mohrenkopf zu bestehen. Gleichzeitig ist die Herzlosigkeit und brüllend laute Unbegabung der beiden Spiegel-Interviewerinnen immer wieder neu schwer zu ertragen. Man muss Gottschalk mögen, wenn er seine Blonder-Ex-König-des-ZDF-Bedürftigkeit offenlegt, er will einfach so doll gemocht werden, er war doch einmal so locker und swinging, so herrlich unvorbereitet und trotzdem gut und versteht nicht, dass das alles, alles vorbei sein soll: Geht es menschlicher, als dass einer keiner Hemmung hat deutlich zu sagen, dass er sich alt und dumm und abgelaufen und ungebraucht fühlt? Letztlich eben doch: Vorbild Gottschalk.
Wir driften hier durch die goldenen Herbsttage. Eine Stunde lang an der Kleppermühle mit den Wasserbüffeln unterhalten. Die großen, grauen Raubtiere im grünen Wasserbottich sind Welse, man setzt sie unter anderem dafür ein, um Teiche leer futtern zu lassen.
18 Uhr. Der Tag geht, Kulmbacher Edelherb kommt.
14. Oktober 2024, Montag
Gestern in einer Zürcher Runde besprochen, was das ist, ein Date. Ich wusste es wirklich nicht (Generationsproblem, ich denke, von Date ist in Deutschland erst die Rede, seit ab den 1990er-Jahren die Fernsehsoap Beverly Hills 90210 auf RTL lief). Ich wollte es genau wissen, auch, weil mir der Satz „Da habe ich ein Date“ oder „Da gehe ich auf ein Date“ gleichzeitig immer hochinteressant und rätselhaft erschienen war (was passiert? Warum sind die nicht einfach verabredet?), und nach etwa zehn Minuten hatte ich im Gespräch mit den drei um 1995 geborenen Zürchern einige wenig überraschende und doch sehr interessante Kriterien zusammen.
Von einem Date spricht man:
— bei einer Verabredung von zwei Personen
— bei einer „exklusiven“ Verabredung (unklar, was genau damit gemeint ist, irgendwie ist es wichtig, dass der Fokus wirklich auf den zweien liegt, die sich da treffen, eine gewisse Konzentration ist nötig, da soll niemand stören und nichts ablenken)
— bei einem gelinde gesagt irgendwie sexuellen Interesse oder Fummel-Interesse, bei zumindest einem der beiden Personen muss ein Interesse vorhanden sein, „etwas mit einander zu haben“
— wenn die beiden Personen zum ersten Mal exklusive Zeit miteinander verbringen, also sich zum ersten Mal dezidiert miteinander sehen (ein Date ist nicht mehr möglich, wenn man sich schon gut kennt oder sogar in einer Paarbeziehung miteinander lebt).
— wenn dem Abend eine gewisse Planung vorausgeht (Kinokarten kaufen, einen Tisch reservieren etc.).
Beim Endlich-alles-über Daten-Erfahren merkte ich auch: Ich weiß bis heute eigentlich nicht, was das ist, ein schönes Abendessen unter Freunden. Ich habe das nie erlebt, also, Moment, ich erinnere mich genau, dass Leute, als wir in unsere späten Zwanziger kamen, öfter mal „zu Abendessen“ eingeladen waren oder selber welche gaben, also „Freunde zu Hause hatten“. Der Satz hieß: „Heute haben wir Freunde zu Hause.“ Oder: „Heute haben wir Freunde zum Essen da.“ Und ich dachte schon damals: Warum bin ich eigentlich nie zu so etwas eingeladen?
Irgendwie, im Ernst, war ich immer zu asozial für nette Abendessen zu Hause, mich wollte nicht jemand an einem Tisch haben, auf dem Selbstgekochtes stand. Stattdessen hieß meine Verabredung immer: Später noch auf ein Bier? Wir haben natürlich abends auch irgendwas gegessen, aber eher stehend, nebenbei, oder bei preisgünstigen Italienern, aber doch nicht zu Hause (irgendwie zu intim und irgendwie auch zu wenig fremde Leude an den Nachbartischen, die man angucken kann). Der Kühlschrank wäre eh nie vorbereitet gewesen auf eine Abendessen-Einladung, das lag eine alte Hautcreme drin und ein halber Liter Milch.
Lustig auch: Als ich gestern in einem der amtlichen Gasthäuser der Region gegen 12 Uhr mittags zu einem frühen Mittagessen einkehrte, beschimpfte mich eine mir vollkommen unbekannte, mir eventuell aber doch von irgendwoher bekannte Frau (wie so oft hier auf dem Land) als „zweitklassigen Schauspieler“. Und ich dachte sofort: Ist okay, das haut so für mich hin, da fühle ich mich angesprochen. Zweitklassig und dann noch Schauspieler, das bin ich.
Draußen fand der Herbst statt, so kalt, so nass, so ungemütlich und gleichzeitig so gemütlich, wie der Mensch es einfach nur liebt.
Und zufrieden trank ich am gestrigen Sonntag zur einer frühen Mittagszeit mein erstes, erstklassig gezapftes Helles und dachte: reiches Leben, große Welt, weiter so, meine Freunde, Liebsten, Leude, I am coming.
11. Oktober 2011, Freitag
WER bekommt den Literatur-Nobelpreis? Han watt bitte wer?
Deutschlands Buchhändlerinnen leiden. Das Komitee in Oslo bringt die Überraschung noch ganz aus der Mode — es gibt nur noch Überraschungen, jedes Jahr eine neue.
Sie ist ja gar nicht sooo unbekannt, merke ich gerade, ganz im Gegenteil, wohl schon eher eine arrivierte, sehr durchgesetzte Autorin, nur ich kenne sie mal wieder nicht (okay, okayy). Bei ihr, der großen Südkoreanerin, so kann man jetzt lesen, geht es unter anderem um eine Frau, die sich in eine Pflanze verwandelt (aus Protest gegen die herrschenden Verhältnisse, Scheiße). OKAY! Das muss erst mal wenig heißen, nichts Gutes, nichts Schlechtes, der größte Käs‘ kann toll sein, wenn, wie gerne gesagt wird, die SPRACHE stimmt (gähn). Jetzt sagt garantiert gleich wieder irgend jemand: „Die ist aber wirklich ganz, ganz toll.“ Da bin ich sowieso sicher, dass die toll ist — endlich mal ein Buch über eine Vegetarierin!
Es freuen sich alle Han-Kang-Spezialistinnen auf Erden. „Die Vegetarierin ist ein Meisterwerk“, Julia Ecke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Iris Radisch auch ganz normal begeistert (Rezension vom 13.10. 2016 in der ZEIT). In der Welt fand Mara Delius die Sexszenen im zweiten Teil des Buches leider eher misslungen („betulich“).
Han Kang jetzt also in einer Reihe mit Thomas Mann und Hermann Hesse. Ich habe ja auch immer gesagt: Die 25 wichtigsten Journalistinnen-Preise des Jahres (es sind etwa 25 sehr wichtige) müssen die kriegen, die ganz weit weg irgendwo im Abseits stehen, wir Angeber in den großen Zeitungen kriegen doch eh schon das ganze Licht und die ganze Sonne ab. Kang arbeitet nebenbei übrigens als Journalistin für die Zeitschrift Wasser der tiefen Quelle. Und auch in diesem Jahr, verehrte Hörerinnen und Hörer, ist der Literaturnobelpreis wieder mit umgerechnet 99,99 Mark dotiert. 😘😘
Wer ist da? Ach du bist es, DER WALD ist am Telefon (ich habe euch lieb, ich vermisse euch, Leude).
Fühle ich mich klein, ängstlich und heimatlos, lese ich einfach die um die zwanzig pro Tag eintreffenden WhatsApp-Nachrichten der „Schmankerlgruppe“, von Klaus und Heidrun so vortrefflich wie liebevoll verwaltet und betreut. Um die siebzig Mitglieder können hier das Essen für den Mittwochabend bei den Grünhaider Schützen vorbestellen. Nächsten Mittwoch: Blut- und Leberwurst mit Kraut und Kartoffeln. Pure #Love.
Lieblingsort für die ersten kleinen Biere, so ab halb sieben darf man loslegen — das Rondell am #Bellevue in seinem klassisch modernistischen 1930er-Jahre-Schwung. Die Orte, die nicht für einen ganzen Abend gedacht sind, sondern für die ersten zehn Minuten des Abends, sind die besten, weiß ja auch jeder, absolut jeder.
10. Oktober 2024
Meine Meinung.
MEINE Meinung, wie immer so schön gesagt wird (Gruß an Inga Humpe und Tommi Eckert, wir blödelten mal einen ganzen Abend an Tresen irgendeiner Partyküche rum, das „Meine Meinung“ der Brandenburger Kneipensteher und Berliner Busfahrer in unterschiedlicher Melodieführung immer wieder aufsagend:
Meine Meinung.
Meine Meinung.
MEINE Meinung.
Meine MEINUNG.
Ganz bei sich ist das „meine Meinung“, wenn im folgenden Satz null Meinung oder eine totale Selbstverständlichkeit gesagt wird, also: „Der Oktober macht sich bisher kühl und regnerisch, meine Meinung“ oder „Ich nehme noch ein Pilsbier, meine Meinung“, haha, genial).
Schön immer: wenn Leute einfach etwas sagen wollen, ziemlich egal, was. Da beginnt für mich immer gleich extremes Wohlbefinden, wenn das so stattfindet, dass Leute einfach, mehr oder weniger ohne Inhalt und, wie gesagt wird, ohne Punkt und Komma, vor sich hinbrabbeln. Ich brabbelte halt auch gerne. #SOUND
Und dann: Trump, Habeck, Haushalt, Ukraine-Krieg, Nahost, die so genannten politischen Themen: noch mal alles anders. Ich habe halt oft eine Riesenungeduld über das GESEIER, das so oft angestimmt wird, wenn es um politische Themen geht, mein Geseier/ meine Ahnungslosigkeit/ meine seit 1985, der Zeit des Kalten Krieges, immer wieder reproduzierten Sätze zu allervorderst.
Kleines Gedicht aus meinem Kopf (es geht nun, Vorsicht, in eine andere Richtung):
Man kann eigentlich immer zu allem etwas sagen, aber dann denkt man manchmal doch, sehr klar: hier besser nicht.
Mir fehlt manchmal etwas ganz einfaches, denke ich: WISSEN nennt man das, glaub ich, dann.
Wissen wäre manchmal doch schön.
Dann denke ich, sprechend, ich könnte hier einfach weiter quatschen, aber merke dann, sprechend: Hier höre ich auf, da schweige ich jetzt mal. Es hört sich gut an. Und lasse die anderen ihr Zeug/ ihre Sachen sagen.
Mein Gefühl sagt … aber wollen Sie hier wirklich mein Gefühl?
Mir sticht etwas, hakt etwas eher hinten, tut etwas, im Knie links oder doch im rechten, seit geraumer Zeit schon weh. Aber über Krankheiten — gute Regel — spricht man doch nicht (daran hielt sich, bis zum Schluss, auch immer mein Vater).
The batteries of Bla.
Habe ich über einen halben Tag geschwiegen, dann merke ich, dass ich am nächsten Tag schon wieder ganz sprechen kann.
Jetzt sechs, sieben, acht Stunden Autofahren, im Oktoberregen. Geht ja gar nicht schöner.
9. Oktober 2024, Mittwoch
Frankenpost: Trübe Stimmung in Oberfrankens Wirtschaft. Das Handwerk glaubt nicht mehr an eine schnelle Erholung. Zukunftsträchtige Investitionen würden zusehends im Ausland getätigt. Von einer Herbst-Tristesse spricht die IHK Coburg. Von einer Herbst-Tristesse? Mist!
Thomas Scharnagl in der Frankenpost: Es ist höchste Zeit, dass Bürger von Windrädern finanziell profitieren (Kabinettsbeschluss in München). Korrekt! Das ist auch meine Meinung.
Cem Özdemir hat bei der diesjährigen, alle zehn Jahre stattfindende Bundeswaldinventur für den Zustand des Waldes im Jahr 6 seit dem Wald-Schlüsseljahr 2017 wieder so eine sehr gut sendbare, natürlich auch bissl kitschige Zeile gefunden, wie er das eben am schönsten kann (jetzt bitte den herrlichen Sound des schwäbischen Anatolen vorstellen): „Das grüne Herz unseres Landes gerät aus dem Takt“ (beim Wald ist immer gleich Kitschgefahr). Anteil der Laubbäume in Bayern: 38 Prozent. Diesen Satz, liebe Leserinnen und Leser von MadW, bitte merken, er ist zentral für meine Arbeit hier im Wald: Zu hohe Holzvorräte machen die Wälder anfällig für Stürme, Trockenheit und Käferbefall.
Das Tagwerk: Meister Kersten Broszies, der Tischler aus Berlin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten (null Herbst-Tristesse), ist da. Besprechungen mit dem Herrn Förster (laufen die Harvester? Sind die Akkus wieder repariert? Ah ja). Für den Termin um 16.30 Uhr musste noch erkundet werden, was derzeit ein fairer Stundenlohn für eine zeitweise Anstellung im Bereich XY ist. 13 Euro? Wenn man nett sein möchte, 14 Euro? What? Ich dachte, der Mindestlohn in Deutschland liegt derzeit bei 20 Euro. Offenbar ist das nicht der Fall.
Zu viel unterwegs gewesen, die letzten Tage, die letzten Wochen, es liegt mir leider so, die ganze Zeit irgendwo rumzuhängen, nur nicht da, wo ich hingehöre (rumdödeln in Berlin, herrliches zufälliges Treffen mit Bruno und Nicole und Markus Peichl und Andreas Osarek beim Abendessen für Harald Falckenberg in der Paris Bar, letztlich dann wieder mit Alle-an-den-Händen-Fassen und Hey-Jude-Singen, so schön, Bruno-Style, am Montag Beerdigung in Hamburg). Aber, Moment: Die Idee des PRINZIPS WALD war doch die Ereignislosigkeit, es sollte sich eine Leere, ein Swing des fortgesetzten Sehr-wenig-Tun einstellen, eine Trance. Ohne Trance keine durchschlagenden anderen Gedanken, keine geile Kraft-Aufstauung, kein Fortschritt, überhaupt nichts Geiles, alles geht in Bla unter, keine #Kunst. #normal
Gesucht wird hier weiter: die gute Ödnis.
4. Oktober 2024, Freitag
Die überschnappende, seiernde, leiernde, jauchzende Live-Demo-Stimme der Sahra Wagenknecht, durch schlechte, krächzende Lautsprecheranlagen verstärkt („NEIN zu den US-Raketenplänen, NEIN zu Kriegen, und FÜÜÜÜR Verhandlungen“), die eine ultraschlichte, bewusst simplifizierte, aufgesetzt neunjährige Weltsicht à la Grimms-Märchen wiedergibt: purer Horror. Sie ist einfach die trostloseste, verlogenste Lügenkuh der deutschen Politik. And she knows it (und ihre dicker, E-Bike fahrender, weinrote Seidenhemden tragender, westdeutscher Ex-Gewerkschafts-Dödel-Ehemann weiß es sowieso). Wegen ihr habe ich noch mal einen ganz neuen, von ganz anderer Seite kommenden Hass auf PERLENKETTEN bekommen (bisher immer recht naheliegend als das Accessoire der fett gefressenen, saturierten, gleichzeitig gierigen und angepassten Materialisten-Neocon-Adelsgirls in den Achtzigerjahren im Internat gehasst).
Ich hasse einfach Friedensdemos, dachte ich heute wieder, schon immer. Allein das DU der Friedens-Hetzerin Wagenknecht, wenn sie vor ihren belömmelten Friedens-Schafen, die Putin lieben, am Berliner Breitscheidplatz steht. Die eine Seite ist ultradumm (in eine kindliche „Ich kneife die Augen zu, dann geht der böse Mann weg“-Weltsicht zurückgezogen, „Die Welt soll wieder heileheile sein“), die andere ultra-verlogen. Keine gute Kombination.
Zum klassischen Antikriegs-Aktivisten-Öko-Talk gehören, wie man bei der seiernde Friedens-Aktivistin Sahra Wagenknecht noch mal hörte, die Worte:
Wahnsinn.
Irrsinn.
Gerne auch: Wahnwitz (kotz).
Und uns wird erzählt …
Genau, liebe Sahra, dir und deinen Friedens-Schafen wird erzählt, euch wird übel mitgespielt, und ihr müsst schlucken, schlucken und dürft eure Meinung nicht sagen, in dieser miesen Diktatur, die uns hier gelebt wird — du armes Opfer, du kannst doch zwischen Wahrheit und Dichtung so schwer unterscheiden. Es ist ja auch schwer.
Während ich diese bewusst unterkomplexen, wieder mal mit großer Freude hingeschlampten Worte hinschreibe, ist mir die ganze Zeit bewusst, dass ich — einige Woche, bevor ich im Mai mein einjähriges Sabbatical bei ZEIT-Feuilleton und ZEITmagazin einreichte — das ich das mit ihrem Büro vereinbarte Interview „99 Fragen an Sahra Wagenknecht“ gleich ZWEI MAL abgesagt hatte, auch noch: kurzfristig abgesagt hatte, also ungehörige, für mich peinliche zwei Tage vor Termin. Einfach: weil mir bewusst war, dass ich der Teufelsfrau Sahra Wagenknecht mit meinem aus dem Jahr 1998 stammenden Konzept der schnellen Fragen NICHT GEWACHSEN sein würde. Kurz gesagt: Ich wusste, dass sie über mich hinwegwalzen und mich einstecken würde, und mein Interview nach Erscheinen, unter anderem in der Großen Donnerstag-Konferenz der ZEIT, als vergebene Chance beurteilt werden würde, und das völlig zu recht. Diesen Sieg der Sahra Wagenknecht über mich und die große und sehr gute Zeitung, für die ich arbeitete — der ihr, auch das war gleich klar, in ihrer großen Presseroutine vollkommen gleichgültig sein würde — den wollte ich nicht. Und heute weiß ich: Eine Schlaffheit meinerseits war es gewesen. Ich hätte mich, der ich ahnte, was für eine HÖLLENHÜNDIN die Sahra Wagenknecht in Wahrheit war und wie in aller nächster Zeit ultrawichtig und erfolgreich sie in diesem Land noch werden würde — von ihrem nahen Austritt bei der Linken und ihrer Parteigründung war ja seit Sommer letzten Jahres andauernd die Rede gewesen — ich hätte mich einfach hinsetzen und meine ARBEIT tun sollen (also das Interview vorbereiten, führen, hinschreiben, alles wie immer, denken, scharf stellen, einfach in Ruhe meine Arbeit tun). Fehler.
Da sitze ich, am Freitagabend gegen halb elf. Und verdaue das köstliche Stück Riesenfleisch (mit Sauerkraut und Klößen), das der Wirt des Alten Pfarrhaus in 95173 Schönwald/ Göhringsreuth mir zum Abendessen gegeben hat.
Jetzt beruhige ich mich mal wieder ein bisschen. Okay. Lohnt ja alles nicht. Doch, lohnt immer.
#Love
Ja, es stimmt, es macht mich immer ganz nervös, wenn ich mit dir FaceTime telefoniere, ich kann es es nicht, gleichzeitig finde ich es natürlich auch toll (sorry, sorry). Ich bin wohl Generation Telefon (zur Zeit der ersten großen Ölpreiskrise geboren). Schlaf gut, mein Liebling.